Chapecoense:Ein Fußballspiel wie eine Wiedergeburt

Chapecoense: Alleine mit der Trophäe: Chapecoense Torwart Jackson Follmann überlebte als einer von nur sechs Passagieren den Flugzeugabsturz.

Alleine mit der Trophäe: Chapecoense Torwart Jackson Follmann überlebte als einer von nur sechs Passagieren den Flugzeugabsturz.

(Foto: Nelson Almeida/AFP)

Nach dem tragischen Flugzeugunglück der Mannschaft von Chapecoense sucht der Klub den Weg zurück zur Normalität. Die Trauer ist riesig - aber der Fußball heilt im Süden Brasiliens langsam die Wunden.

Reportage von Boris Herrmann, Chapecó

Gut zwei Stunden vor dem Anpfiff betritt Rafael Henzel die Arena Condá von Chapecó. Er hat einen Rucksack dabei, in dem sein Mikrofon steckt, denn er wird an diesem Nachmittag im lokalen Radiosender "Oeste Capital" das Spiel von Chapecoense kommentieren. Wie üblich. "Wie immer eigentlich", sagt Henzel.

Natürlich ist diesmal nichts wie immer. Das lässt sich schon daran erkennen, wie viel Mühe es Henzel, 43, kostet, die steilen Stufen zu seiner Reporterkabine hochzusteigen. Zwanzig Krankenhaustage, sieben gebrochene Rippen, eine langwierige Lungenentzündung, ein geschientes Bein, das steckt auch der zäheste Südbrasilianer nicht einfach so weg. Auf halber Höhe schnauft Henzel kurz durch, dann sagt er: "Ich lasse mich jetzt bestimmt nicht mehr durch eine Treppe aufhalten."

Auf dieses Spiel hat er hingelebt, das erste von Chapecoense nach dem Flugzeugabsturz Ende November. 71 Menschen sind in den Bergen Kolumbiens gestorben, weil die Maschine zu wenig Treibstoff dabei hatte. Unter den Toten war nahezu die gesamte Mannschaft des brasilianischen Erstligisten, dazu die Vereinsführung, einige der wichtigsten Sponsoren sowie die regelmäßigen Berichterstatter. Chapecoense war auf dem Weg zum Final-Hinspiel um den Südamerika-Cup gegen Atlético Nacional in Medellín. Es hätte der größte Triumph der Vereinsgeschichte werden sollen. Hätte. Nur sechs Passagiere überlebten den Absturz. Einer von ihnen war Rafael Henzel.

Der Klub hat überlebt. Es waren seine Fans, die ihn nicht sterben ließen.

54 Tage später sitzt er wieder von seinem Mikrofon, um über einen Neuanfang zu berichten, zu dem er auch selbst gehört. Für Chapecoense (Rufname: Chape) beginnt das zweite Leben mit einem Benefizspiel gegen den aktuellen brasilianischen Meister Palmeiras aus São Paulo. Palmeiras war auch der letzte Gegner im alten Leben, einen Tag vor dem Absturz. Henzel begrüßt seine Hörer, von denen nicht wenige mit Transistorradios direkt vor ihm auf der Tribüne sitzen, mit diesem Satz: "Heute wollen wir kein tolles Spiel sehen. Heute geht es darum, dass Chape zeigt, dass es wieder auf den Beinen ist."

Chapecoense: Schritt in Richtung Normalität: 54 Tage nach der Flugzeug-Katastrophe, die das Leben von 19 Spielern forderte, hat Chapocoense eine neue Mannschaft.

Schritt in Richtung Normalität: 54 Tage nach der Flugzeug-Katastrophe, die das Leben von 19 Spielern forderte, hat Chapocoense eine neue Mannschaft.

(Foto: Andre Penner/AP)

Das ist es, was sie im südbrasilianischen Städtchen Chapecó hören wollen, wo sich nahezu das gesamte öffentliche Leben um einen Fußballklub dreht, von dem Ende November nicht mehr ganz klar war, ob er überhaupt noch existiert. Er hat im Landeanflug auf Medellín ja nicht nur sein Profiteam verloren, sondern auch den kompletten Trainerstab, den Präsidenten, zwei Vizepräsidenten, den Sportchef, den Mannschaftsarzt, den Physiotherapeuten den Zeugwart und den Pressesprecher. Der Klub hat aber überlebt. Es waren seine Fans, die ihn nicht sterben ließen. Tagelang versammelten sie sich in der Arena Condá, um gemeinsam zu singen, zu feiern und zu heulen. Freiwillige aus der Stadt halfen bei der Organisation der Trauerfeier und beim Wiederaufbau. Auch die internationale Solidarität war bemerkenswert, vor allem die aus Kolumbien. Auf Antrag von Atlético Nacional wurde Chapecoense der Titel des Südamerika-Cups kampflos zugesprochen.

Vor dem Anpfiff gegen Palmeiras fand die Pokalübergabe statt, ein ebenso rührender wie unerträglicher Moment. Drei Spieler nahmen die Trophäe des zweitwichtigsten Klubwettbewerbs des Kontinents entgegen - die drei, die den Absturz überlebten. Der Verteidiger Neto steckte zehn Stunden im Flugzeugwrack fest, bevor er gerettet wurde, er lernt gerade wieder laufen. Der Flügelspieler Alan Ruschel hofft auf ein Comeback in der zweiten Jahreshälfte. Der Torhüter Jackson Follmann hat andere Sorgen. Ihm musste der rechte Unterschenkel amputiert werden, er wurde im Rollstuhl auf den Rasen geschoben und wenig später zurück ins Krankenhaus gebracht. Hinter den drei Überlebenden standen die Witwen ihrer 19 verstorbenen Mitspieler und nahmen die Siegermedaillen entgegen. Wahrscheinlich war niemand unter den 15 000 Zuschauern im nahezu ausverkauften Stadion, der bei diesem Anblick kein Taschentuch brauchte.

Chapecoense: Chapecoense-Torwart Jackson Follmann und der Flügelspieler Alan Ruschel werden von ihren Gefühlen überwältigt

Chapecoense-Torwart Jackson Follmann und der Flügelspieler Alan Ruschel werden von ihren Gefühlen überwältigt

(Foto: AP)

Verzicht auf kostenlose Spieler - aus Prinzip

Bloß das neue Team von Chapecoense hat diese Zeremonie nicht gesehen, der genauso neue Trainer Vagner Mancini hatte entschieden, seine Spieler in der Kabine zu lassen, aus Selbstschutz. "Ich glaube, das war richtig, das hätte uns alle das Herz gebrochen", fand Stürmer Túlio de Melo. Mancini meinte: "Wenn wir uns zu hundert Prozent auf Fußball konzentrieren, dann ist das die beste Art, um die Toten zu ehren." Zunächst einmal ist es aber ein kleines Wunder, dass es dieses neue Team überhaupt gibt.

Chapecoense hat in knapp zwei Monaten 22 Profis verpflichtet oder ausgeliehen, obwohl zunächst niemand wusste, wer die Verhandlungen führen oder die Verträge unterschreiben sollte. "Es haben einfach alle mit angepackt, die noch da waren", sagt Ivan Tozzo, der einzige Vizepräsident, der nicht in der Unglücksmaschine saß. Viele der neuen Spieler kamen aus der zweiten Liga, einige aus dem Nachwuchs, es sind aber auch erfahrene Profis wie De Melo, 31, dabei, der schon beim OSC Lille in Frankreich und bei Valladolid in Spanien kickte. Zuletzt hatte er "ein sehr verlockendes Angebot" aus Katar, die Koffer waren gepackt. Dann kam der Anruf aus Chapecó. "Da konnte ich nicht Nein sagen."

Stille beim Tor

Bei Chapecoense werden keine verlockenden Gehälter aufgerufen. Das Jahresbudget lag zuletzt bei 12,5 Millionen Euro. Trotzdem verzichtete die improvisierte Klubführung auf das bestimmt gut gemeinte Angebot zahlreicher Ligakonkurrenten, kostenlos Spieler zur Verfügung zu stellen. Aus Prinzip. Es sollten nur Leute kommen, die sich mit den Werten des Vereins identifizieren. Seriöse Mittelstandspolitik mischt sich hier mit brasilianischer Herzlichkeit und einem Schuss Sozialromantik. Weshalb sich Túlio de Melo für Chape statt für Katar entschieden hat? "Ich wollte zeigen, dass es im Fußball nicht immer um Geld gehen muss."

Das Testspiel gegen Palmeiras endet 2:2, am Anfang hat man den Eindruck, es könnte von der Last des Augenblickes erdrückt werden. Beim Führungstreffer der Gäste traut sich der Torschütze Raphael Veiga nicht, zu jubeln. Für einen Moment ist es ganz still im Stadion, dann erhält Veiga Applaus für seine Zurückhaltung. Den Ausgleich scheint das Team von Palmeiras dann fast ein wenig erleichtert zur Kenntnis zu nehmen. Und Henzel ruft in sein Mikro: "Gooool! Das ist das Tor der Wiedergeburt von Chape!"

Irgendwann zur Mitte der zweiten Spielhälfte wird ein Chapecoense-Spieler recht rüde umgegrätscht. Das Publikum im Stadion buht zum ersten Mal laut, auf der Haupttribüne schreit einer der Anhänger: "Du Penner!" Es ist der Moment, in dem sich das wohlige Gefühl einstellt, dass es hier und jetzt tatsächlich wieder um Fußball gehen könnte in Chapecó.

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