Fußball-EM:Toni Kroos ist auf dem Zenit seines Könnens

Germany v Ukraine - Group C: UEFA Euro 2016

Führte die DFB-Elf zum Auftaktsieg gegen die Ukraine: Toni Kroos.

(Foto: Getty Images)

Der Spieler von Real Madrid ist der magnetische Mittelpunkt des deutschen Spiels - das unterstreichen die Statistiken eindrucksvoll.

Von Philipp Selldorf, Évian

Toni Kroos, 26, war nach dem 2:0-Sieg der Nationalmannschaft zum EM-Start gegen die Ukraine das große Thema in Deutschland. Die Fachpresse war voll des Lobes und widmete ihm hymnische Überschriften. "Süße Liebeserklärung an Jessica", schrieb gala.de, während bunte.de titelte: "Rührende Liebeserklärung an seine Jessica".

Tatsächlich kann man es nicht genug würdigen, dass Kroos mitten im Stress der Europameisterschaft seinen ersten Hochzeitstag nicht vergessen hat, obwohl dieser ja schon ein ganzes Jahr zurückliegt. Zwar verpasste er bei seinen Gruß-Mitteilungen via Twitter und Facebook ("es ist eine Freude, Dich an meiner Seite zu haben") den eigentlichen Stichtag um eine Nacht und ein paar Stunden, aber seine Frau wird ihm das schon verzeihen: Sie konnte am Fernsehschirm miterleben, dass ihr Toni hinreichend damit beschäftigt war, in Akkordarbeit punktgenaue Pässe an die Mitspieler zu verteilen. Am Ende hatte er laut Kicker 109 Pässe gespielt, von denen allerdings sieben ihr Ziel verfehlten. 94 Prozent Erfolgsquote können sich, gelinde ausgedrückt, trotzdem sehen lassen. Auch für die hohen Maßstäbe, die Kroos an sich stellt, ist das ein stattlicher Wert.

Zwei Tage nach dem deutschen Premierenspiel saß ein anderer Hochzeitler aus der Fußballwelt auf dem Flughafen in Paris und freute sich auf die Flitterwochen in der Südsee. Bevor ihn das Flugzeug davontrug, hat Stefan Reinartz, 27, am Telefon noch ein paar weitere, sogar noch erstaunlichere Daten über seinen früheren Mitspieler Toni Kroos kundgetan. Die beiden haben früher jahrelang in den Junioren-Mannschaften des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) zusammengespielt, Kroos ist zwar ein Jahr jünger als Reinartz, gehörte aber immer dem nächsthöheren Jahrgang an, was unter anderem natürlich mit seiner spielerischen Klasse zu tun hatte.

Später begegneten sich Reinartz und Kroos bei Bayer Leverkusen wieder, anderthalb Jahre spielten sie unter der Regie von Jupp Heynckes zusammen. Letzteren bezeichnete Kroos neulich als den "wichtigsten Trainer meiner Karriere", denn - man glaubt es kaum - selbst diese gigantische Fußballer-Karriere eines seit jeher gigantisch begabten und mit natürlicher Leichtigkeit gesegneten Spielers hat sich nicht von selbst ergeben. Auch sie benötigte in gewissen Phasen ein wenig Anschub, um in Schwung zu kommen.

Quantität vor Qualität

Bevor er sich jetzt verheiraten ließ, hat Reinartz seinen Dienst als Profi quittiert, den laufenden Vertrag mit Eintracht Frankfurt löste er auf, weil ihm eine Serie von Verletzungen die Lust am Fußball genommen hatte. Dennoch bleibt er seinem Sport verbunden, Reinartz betreibt nun mit seinem früheren Mitspieler Jens Hegeler eine Firma für Spieldatenanalyse namens Impect, die andere Kriterien heranzieht als herkömmliche Statistikdienste. Unter anderem werden nicht mehr bloß die Pässe gezählt, die den Mitspieler erreichen, stattdessen geht es um die Anzahl der Gegenspieler, die durch den Pass überspielt werden. Es geht also um den Faktor Produktivität, das Prinzip orientiert sich an Qualität statt an Quantität. Bei der Bewertung wird außerdem zwischen den Zonen differenziert, in denen die Bälle den Abnehmer erreichen, logischerweise ist es wichtiger, gegnerische Abwehrspieler als gegnerische Stürmer zu überspielen.

Reinartz' Firma ist aussichtsreich ins freie Wirtschaftsleben gestartet, der DFB, Bayer Leverkusen und Borussia Dortmund sowie die ARD zählen zu den Kunden, der Sender nutzt die Impect-Daten als Service für die Europameisterschaft. Andererseits hätte es Reinartz auch ohne statistische Beweismittel vorhersagen können, dass nach dem ersten Spieltag der Vorrunde sein Freund und früherer Mitspieler Toni Kroos an vorderer Stelle der Wertung zu finden sein würde. Tatsächlich steht er sogar an erster Stelle, während auf den nächsten Plätzen prominente Kollegen rangieren: Luka Modric, 45 überspielte Gegner; Andrés Iniesta, 58; Granit Xhaka, 65. Aussagekraft gewinnen die Zahlen, wenn man sie ins Verhältnis zum Wert von Toni Kroos setzt, denn dieser kam im Ukraine-Spiel auf 112 überspielte Gegner. "Das ist selbst für ihn ungewöhnlich", sagt Reinartz.

Auch der Jury, die in Lille den besten Spieler des Spiels zu küren hatte, war die besondere Leistung des deutschen Mittelfeldlenkers natürlich nicht entgangen. Kroos erschien also nach der Partie in der ihm eigenen Lässigkeit vor der Presse, um seinen Preis entgegenzunehmen. Jenseits des Mikrofons und der offiziellen Mitteilungen gab er zu verstehen, dass die von einem Sponsor gestiftete und wie üblich außerordentlich scheußliche Trophäe gewiss einen Sonderplatz in seinem Haushalt erhalten werde (etwa in der Garage hinter dem Satz Winterreifen).

Ein Pragmatiker und Meister der Effizienz

Andererseits hat es ihm auch ganz gut gefallen, dass die Jury genügend Sachverstand bewiesen hatte. Kroos ist nicht so bescheiden, dass er die Anerkennung seiner Kunst nicht genießen könnte. Zumal er von seinem Vermögen als Ballkünstler und Stratege selbst in beruhigendem Umfang überzeugt ist. Sein Trainer bei Real Madrid - immerhin ein gewisser Zinedine Zidane - müsse ihm keine Belehrungen mit geben, er wisse schon, "dass ich es mit dem Ball ganz gut allein hinbekomme", hat Kroos neulich erklärt. "Er hat immer schon ein klares Verständnis von sich selbst gehabt. Selbstzweifel kennt er eher nicht", sagt Stefan Reinartz.

Es ist das Glück von Toni Kroos, dass er auf dem schmalen Weg zu wandeln versteht, der gesundes Selbstbewusstsein von Arroganz und Selbstgefälligkeit unterscheidet. Kroos ist mit seiner Spielweise kein Selbstdarsteller, sondern ein Pragmatiker und Meister der Effizienz. Zunehmend wird er in der Nationalelf aber auch zum Herrscher und Beherrscher. Am Sonntag gegen die Ukraine ging eine fast unheimliche Dominanz von ihm aus, die sowohl den eigenen Mitspielern als auch dem Gegner galt.

Auch Reinartz ist nicht entgangen, wie Kroos den quasi magnetischen Mittelpunkt des deutschen Spiels bildete: "Jeder spielt ihm den Ball zu, wenn er den Ball haben will." Dominante Spieler gab es in der Nationalelf auch früher, aber keiner war mit Kroos vergleichbar. Michael Ballack, der letzte der klassischen deutschen Mittelfeldkönige, ragte kraft Können, Rang und Autorität hervor. Kroos' Macht beruht hingegen darauf, dass er die Lösungen fürs Spiel bietet. Mal auf kurzen, mal auf langen Wegen wie bei jenem ungeheuer schnell geschlagenen Pass, der Sami Khedira vor dem ukrainischen Tor freistellte.

In Lille lautete eine Frage an Kroos, ob er das Gefühl habe, auf dem Zenit seines Könnens und seiner Karriere zu sein. Kroos schaute etwas verwundert. Er glaubt, dass er schon seit Jahren auf seinem Zenit spielt. Man wird wohl noch viel von ihm hören.

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