Fußball-EM:Warum Scholls Kritik an Löw überzogen ist

Wählte der Bundestrainer gegen Italien die falsche Taktik? Mehmet Scholl übt harsche Kritik, dabei ging der deutsche Plan im EM-Viertelfinale wunderbar auf.

Von Thomas Hummel, Bordeaux

Manuel Neuer war wie immer kurz nach Schlusspfiff nur mit einem ärmellosen, enganliegenden Hemd bekleidet. Er gibt den Blick darauf frei, warum dieses Hemd im Volksmund "Muskelshirt" heißt - sein großer, breiter, gerader Körper kommt darin optimal zur Geltung. Würde die Uefa erlauben, dass Neuer in so einem Muskelshirt im Tor stehen dürfte, die Italiener hätten vermutlich nicht nur vier Elfmeter verschossen.

Doch auch im Schlabber-Torwartlock wurde er von einer Jury (die überraschenderweise ohne Mehmet Scholl auskam) zum Mann des Spiels gewählt. "Im Elfmeterschießen kann ein Torwart halt nur gewinnen", merkte Mats Hummels mit spitzem Lächeln an. Manuel Neuer setzte diese Tradition fort und gewann nicht nur eine Halbfinal-Teilnahme, im Gegensatz zum dann gesperrten Hummels. Sondern auch die Auszeichnung Man of the match.

Zwischendurch sah es aus, als sollte es gar keinen Verlierer geben

Als solcher musste er noch im Muskelshirt als erster vor die internationalen Medien treten. Er kam mit einer Trinkflasche in den Saal und zog sekundenlang eine Flüssigkeit heraus. Dann nahm er eine vor ihm stehende Wasserflasche und schüttete weitere zehn bis 18 Schlucke in sich hinein. Weil er irgendwann wieder atmen musste, füllte er das restliche Wasser in die Trinkflasche. Man mochte meinen, Manuel Neuer hätte nach diesem sehr, sehr langen Viertelfinale der Europameisterschaft auch den sehr, sehr breiten Fluss Garonne in Bordeaux leertrinken können.

Als er mit Trinken vorerst fertig war, sagte Neuer: "Wir haben es nach 90 Minuten nicht geschafft, wir haben es nach 120 Minuten nicht geschafft. Dann hat dieses Elfmeterschießen zu dem Duell gegen Italien wohl auch gepasst." Erst mit dem 18. Schuss von Jonas Hector war es entschieden worden, zwischendurch sah es so aus, als würden Deutsche und Italiener einfach keinen Verlierer ermitteln wollen. So hart hatten sie miteinander gestritten und gegeneinander gekämpft. Keiner wollte aufgeben, und manch einer schien Angst vor dem Gewinnen zu haben. Vor dem ersten Sieg gegen eine italienische Mannschaft in einem Pflichtspiel.

Oder war alles nur eine Frage der Taktik gewesen? Hätten die Deutschen viel leichter gewinnen können? Als etwa eine Stunde vor dem Spiel die Aufstellung herumgereicht worden war, ging eine Unruhe durch das Stade Mamut Atlantique in Bordeaux. Bundestrainer Joachim Löw hatte extra für die Italiener seine Mannschaft umgestellt, brachte zusätzlich den Verteidiger Benedikt Höwedes und nahm den Angreifer Julian Draxler heraus. Wie kann er das nur tun, den besten Mann des Achtelfinals rausnehmen, meinten die einen. War doch logisch, die Spanier sind mit ihrem 4-4-2-System gegen die Italiener untergegangen, erwiderten die anderen.

Vertreter der ersten Fraktion versetzte Löws Aufstellung regelrecht in Rage. Mehmet Scholl zum Beispiel wetterte mit einem Gesichtsausdruck, als müsse er gleichzeitig das Abendland sowie das Morgenland verteidigen. Sein Ziel war DFB-Scout Urs Siegenthaler, Scholl wurde gar persönlich. "Der Herr Siegenthaler möge bitte seinen Job machen, morgens liegen bleiben, die anderen zum Training gehen lassen und nicht mit irgendwelchen Ideen kommen", schimpfte der frühere Nationalspieler und FC-Bayern-II-Trainer in der ARD. Wolle man ein Turnier gewinnen, dürfe man nicht ein gewachsenes Gebilde auseinandernehmen.

Die Dreierkette war Löws "erster Gedanke"

Es war nicht klar, wie er auf den Schweizer als "Schuldigen" kam. Thomas Müller erklärte, dass Siegenthaler zwar Kraft seines Amtes die Gegner "filetiert", doch die Idee mit der Dreier-Abwehrkette sei vom Trainerteam gekommen. Wenngleich Siegenthaler sicherlich beratend einwirkt und in der Vergangenheit bei Gegnern Schwachstellen entdeckte, die diese vermutlich selbst nicht kannten.

Joachim Löw rechnete das Konzept dennoch seiner eigenen Entscheidungskraft zu: "Für mich war das nach dem Spiel Italien gegen Spanien klar. Da war das mein erster Gedanke." Und: "Es war dringend notwendig, die Mannschaft ein bisschen zu verändern." Italien spielte als eine der wenigen Mannschaften in diesem Turnier mit zwei Stürmern, dazu kommen bei eigenem Ballbesitz zwei sehr offensive Außenspieler. Das sind vier Angreifer, worauf Löw mit fünf Abwehrspielern reagierte.

Der Plan ging aufs schönste auf

Auch, weil er wohl nicht das größte Vertrauen in die Verteidigungskunst von Toni Kroos hat, den genialen Spielgestalter von Real Madrid. Der in der Rückwärtsbewegung bisweilen den Schutz von kernigen Partnern braucht. Als dann Sami Khedira nach zwölf Minuten durch den lange Zeit verletzten Bastian Schweinsteiger ersetzt werden musste, ergab die Aufstellung Löws noch mehr Sinn.

Vorne fehlte im Vergleich zu den Spielen gegen Nordirland und die Slowakei dafür ein Offensivspieler, was sich auf die Schlagkraft im Angriff auswirkte. Dennoch ging der Plan aufs schönste auf. Mesut Özils Tor durchbrach Italiens Defensive, Mario Gomez hätte kurz darauf das Spiel entscheiden müssen, scheiterte aber an Torwart Gianluigi Buffon.

Das eine Tor hätte dennoch gereicht, wenn nicht Jérôme Boateng im eigenen Strafraum die Kontrolle über seine Arme verloren hätte. Der Elfmeter brachte Italien zurück ins Spiel. Löw bezeichnet das als Unglück, weil "ich hätte nicht gedacht, dass die Italiener aus dem Spiel heraus ein Tor erzielen". Oder wie Thomas Müller meinte: "Sie sind zurückgekommen wie typische Italiener: aus dem Nichts."

Wäre das mit den 18 Elfmetern andersherum ausgegangen, wäre die Rage der Kritiker wohl in göttliche Wut umgeschlagen. Davor bewahrte die Nation mal wieder ein großer, breiter Mann im Muskelshirt. Manuel Neuer übrigens spielt bei egal welcher Umstellung fast immer im Tor.

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