Fußball-EM:Ruf zum Abschied noch mal Hu!

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Aron Gunnarsson: Enttäuscht nach dem 2:5, aber prägend für das Turnier (Foto: AFP)

Diese EM wird für immer eine isländische sein: Nach dem 2:5 gegen Frankreich halten 23 Söhne aus Island minutenlang vor den eigenen Fans inne. Der Frust weicht schnell dem feinen Humor.

Von Thomas Hummel, Saint-Denis

Auf der linken Seite des Stade de France liefen Frankreichs Helden zu ihren Fans, sie brüllten, sie tosten, umringt von Ordnern, Kameras, Mikrofonen. Zusammen mit den Zuschauern wirkten sie wie ein wild gewordenes Bienenvolk. Über die Mikrofone dröhnte das Elektro-Pop-Lärmlied "This one's for you", dann brüllten zwei Stadionsprecher irgendwas von supertollem Spiel und "Allez les Bleus" und "Þakka Ísland".

Auf der rechten Seite des Stade de France stand die Zeit still.

Dort stand der Sohn des Halldór und der Sohn des Gunnar und der Sohn des Sigþór - die in diesen Tagen berühmtesten Söhne der Insel Island. Die meisten hatten die Hände in die Hüfte gestemmt und blickten hinauf zu ihren Landsleuten. Und die Landsleute blickten zurück. Sekundenlang. Minutenlang. Es war Zeit zum Abschied nehmen. Die Isländer nahmen sich die Zeit.

Die Endung "-sson" bedeutet im Isländischen "der Sohn von", doch das spielt dort eigentlich keine Rolle. Isländer sprechen sich alle mit Vornamen an. Es ist eine dieser Eigenheiten aus dem hohen Norden, von denen viele in der Welt in diesen Wochen der Europameisterschaft zum ersten Mal gehört haben. Weil 23 Söhne der Insel mit seinen 330 000 Einwohnern nach Frankreich kamen und so manch Millionenvolk das Fürchten lehrten. Das Turnier wird für immer auch ein isländisches Turnier sein.

Lagerbäck erkennt ein mentales Problem

Selbst durch den herabfallenden Regenschleier und trotz des furchtbaren Getöses ringsherum ging von da unten im Stade de France eine Energie aus, der man sich schlecht entziehen konnte. Angesichts der Daten (Gesamtbevölkerung, bisherige "Erfolge", einer der Trainer ein Zahnarzt, etc.) galt die Mannschaft ja als solch großer Außenseiter, als hätte sich ein Kreisligist hierher verirrt. Was natürlich großer Unsinn war, hatten die Isländer doch schon seit Jahren bewiesen, was hier für eine gute Mannschaft heranwächst. Deshalb war das 2:5 im Viertelfinale gegen Frankreich für die Spieler im ersten Moment auch überhaupt kein schnell vergessener Unfall gewesen. Im Gegenteil wirkten sie ernsthaft enttäuscht, frustriert und sauer auf sich selbst und ihre Vorstellung in diesem größten Spiel der Landesgeschichte.

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Vor allem über die erste Hälfte, in der sie, nun ja, ordentlich Schiffbruch erlitten. 0:4 nach 45 Minuten. Sie haben sich überrennen, über- und ausspielen lassen von den Franzosen. Die defensive Ordnung war ja stets ihre Stärke gewesen und nun sahen sie eine Halbzeit lang wirklich aus wie ein verirrter Kreisligist. Trainer Lars Lagerbäck sprach später von einem mentalen Problem. "Ich kann es mir nicht anders erklären." Seine Mannschaft habe dumme Fehler gemacht, kopflos agiert und nicht als Gruppe verteidigt. Die Isländer haben vermutlich zum ersten Mal die Wucht des Ereignisses gespürt. Diese Wucht hat sie weggeblasen, als wären sie mit einem Ruderboot in einen Polarsturm geraten.

Nach der Pause immerhin rehabilitierten sich die Spieler und zeigten noch einmal, dass sie zu Recht im Viertelfinale standen. Sie zeigten Entschlossenheit, Robustheit, taktische Disziplin, ordentliche Technik und natürlich die weiten Einwürfe des Aron Gunnarsson. Zwei Tore gelangen ihnen durch Kolbeinn Sigþórsson und Birkir Bjarnason, es hätten sogar noch ein, zwei mehr sein können. "Es ist gut, dass wir das noch einmal richtigstellen konnten", erklärte Lagerbäck.

So war bei den 10 000 bis 15 000 Menschen im blauen Island-Trikot auch keine Spur von Ärger zu erkennen. Keiner bewegte sich nach dem Schlusspfiff, es wirkte, als würden sie die Spieler und das Trainerteam in sich aufnehmen wollen. "Das Besondere an Island sind auch die Beziehungen zwischen den Spielern und den Fans: Die Spieler kennen 200, 300, 400 Menschen auf den Tribünen - es ist Familie, es sind Freunde, Schulkameraden", berichtete Lagerbäcks Trainerpartner Heimir Hallgrímsson. Gemeinsam führten sie noch einmal das berühmte Klatschen mit dem nordischen "Hu!" vor. Dann stellte sich der gesamte Kader samt Mitarbeiter vor der Tribüne zum Familienfoto auf. Es war wie auf einem Klassentreffen.

Der Frust über die fünf Gegentore wich bald dem Bewusstsein, für immer in der Historie des Landes und des Turniers eingraviert zu sein. Die Isländer fanden auch ihren feinen Humor wieder. "Vielleicht wäre es ein bisschen zu viel gewesen, die EM gleich im ersten Versuch zu gewinnen", sagte Sigþórsson. Während sich sein Trainer Hallgrímsson auf einige Privilegien in seiner Heimat freute. "Wahrscheinlich müssen wir jetzt im Pub nicht mehr für unser Bier bezahlen." Was doch so ein Sieg über England alles bewirken kann.

Hallgrímsson wird die Arbeit nun alleine weiterführen. Der Schwede Lagerbäck verlässt das Projekt nach viereinhalb Jahren, obwohl er zigmal betonte, dass er sein Herz an Insel und Mannschaft verloren habe. Zum Abschied ließ er die Welt wissen: "Wenn man das Alter der meisten Spieler betrachtet und daran denkt, dass einige junge Spieler gar nicht zum Einsatz kamen, sieht die Zukunft dieser Mannschaft sehr gut aus." Es soll im Stade de France nicht das letzte Hu! gewesen sein.

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