Ein nicht unwichtiger Hinweis für das Viertelfinal-Spiel gegen Italien kam jetzt vom Fernsehexperten Didi Hamann: Gegen Italien dürfe die deutsche Mannschaft "nicht die Nerven verlieren", empfiehlt der ehemalige Nationalspieler mit der Bayern-München-und-FC-Liverpool-Lebensgeschichte. Zwar erinnert sein Ratschlag an die Frau, die ihrem Mann mit auf den Weg gibt: "Fahr nur nicht in den Graben." Aber, um Hamann die verdiente Ehre zu geben: Recht hat er ja. Wenn man sich gegen die mutmaßlich cleverste Nationalmannschaft der Welt zur Ungeduld treiben lässt, dann steigen in überdurchschnittlicher Frequenz die Chancen aufs Scheitern, der ehemalige Titelträger Spanien hat es gerade erfahren. "Die Italiener können einen frustrieren", weiß Hamann.
Allerdings hat auch die deutsche Mannschaft einen Spieler, der geeignet ist, den Gegner zu frustrieren. Dank seiner kaum noch steigerbaren Ballsicherheit und seiner Imprägnierung gegen Fehlpässe bildet Toni Kroos, 26, ein mehr oder weniger uneinnehmbares Zentrum im deutschen Spiel. Das gilt aber nicht nur für seine Auftritte mit Ball, es gilt manchmal auch für den gesprochenen Toni Kroos. Am Donnerstag hat ihn der DFB zur Pressekonferenz geführt, und dort hat er dann in abgewandelter Form eine alte Spruchweisheit des Fußballs bestätigt: Aus "so wie einer trainiert, so spielt er auch" wird bei ihm: "So wie er spielt, so spricht er auch." Prägnant, präzise, nicht angreifbar.
Reporter fragt Kroos: "Haben Sie ein Italien-Trauma?"
Kroos: "Warum sollte ich ein Italien-Trauma haben? Das müssen Sie mir erst mal erklären, bevor ich das dementiere."
Reporter: "Weil Deutschland bei Turnieren noch nie gegen Italien gewonnen hat."
Kroos: "Wie oft war ich da dabei?"
Eine Fortsetzung des Zwiegesprächs erübrigte sich. Kroos' Karriere ist nicht geprägt von Schadensfällen, die auf Begegnungen mit italienischen Teams zurückgehen. Allerdings gibt es in seinem Lebenslauf auch dieses eine Spiel vor vier Jahren, in dem Deutschland gegen Pirlo, Balotelli, Cassano und all die anderen cleveren Italiener das EM-Halbfinale in Warschau 1:2 verlor. Diese Partie ist ein wunder Punkt in seiner Fußballer-Biografie, das blieb auch am Donnerstag nicht verborgen, als die Rede auf die Partie kam, die das Land noch lange Zeit bewegt hat.
Da Sami Khedira als einziger in Italien spielt, kennt er den kommenden Gegner natürlich am besten.
Zart angesprochen auf den Hergang des Abend erwiderte Kroos durchaus schnippisch: "Wir sind schon in der Lage, uns zu erinnern, dass wir das Spiel verloren haben." Und immer noch ist ihm gegenwärtig, dass er selbst zu einem Hauptbeschuldigten erhoben wurde, weil ihn der Bundestrainer von der Ersatzbank geholt hatte, um Pirlo strategisch einzuengen. Verloren habe Deutschland nicht wegen des taktischen Plans - also wegen seiner Beteiligung - sondern "wegen individueller Fehler", sagte Kroos nun im Sinne eines "damit das ein für allemal klar ist".
Kroos ist ein Hochbegabter des Fußballs, daran kann kein Zweifel bestehen. Aber Zweifler haben lange genug seinen Weg gesäumt, das hat er nicht vergessen, obwohl ihm jetzt überall die Bewunderung zufliegt. Er hat kein Verständnis dafür, verkannt zu werden. Als ihn neulich beim Champions-League-Finale sein Klubtrainer Zinedine Zidane - eigentlich kein Zweifler - auf die Bank setzte, hat Kroos vorübergehend sehr schlechte Laune bekommen, und der Spielverlauf gab ihm ja recht. Auch die Zahlen seiner vier Turnierauftritte lassen wenig Raum für Zweifel. Vergleicht man im deutsch-italienischen Quartettspiel Hubraum, PS und Beschleunigung von Null auf Hundert, dann ist Kroos die Trumpfkarte: 1626 Pässe haben die Italiener gespielt, 2568 Pässe die Deutschen - auf Kroos allein entfallen 449.
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Gewiss, diese Zahlen sind von relativem Belang. Aber sie unterstreichen die Bedeutung, die Kroos im deutschen System hat. "Er ist für die Symmetrie verantwortlich", sagt der Bundestrainer. Verteidiger Jérôme Boateng geht noch ein Stück weiter: "Toni hat sein Spiel auf Real Madrid übertragen und auch auf uns. Er bestimmt das Tempo, spielt sehr kluge Pässe, übernimmt Verantwortung und ist auch torgefährlich." Heißt: Auf dem Spielfeld sind Real Madrid und die Nationalelf gewissermaßen Kreationen nach seinem Ebenbild.
Wenn man im deutschen Kader einen Gegenentwurf zu italienischen Stereotypen benennen wollte, dann bietet sich Kroos an, ein Mann von kühler Präzision, beherrschtem Temperament und unerschütterlichem Zielbewusstsein - ein vermeintlich typisch deutscher Kopf. Aber selbstredend könnte Kroos als großer Stratege problemlos einen Platz in der italienischen Mannschaft einnehmen, und es ist nur logisch, dass der Italiener Carlo Ancelotti bei Real Madrid immer seinen Wert zu nutzen und zu würdigen wusste.
In seiner Eigenschaft als Hauptverkehrskreuzung wird Kroos in Bordeaux noch mehr als bisher gefordert sein. Seine Ballsicherheit soll die Ballverluste verhindern, die man sich gegen Italien noch weniger leisten darf als gegen andere Teams. Andererseits sollte man es mit der Ehrfurcht auch nicht zu weit treiben, findet Kroos. Italien sei zwar die bisher schwerste Turnier-Prüfung, "aber nach meinen Informationen ist es am Samstag ein Viertelfinale" - also weder ein Finale noch eine Form von Traumabewältigung.
