Fußball-EM:Islands Erfolg ist kein Zufall

Höchste Trainerdichte der Welt, die Niederlande zweimal besiegt und eine simple, aber höchst effektive Taktik: Islands Sieg gegen England ist gar keine Riesen-Überraschung.

Von Martin Schneider

Mats Hummels hat es bestimmt gewusst. Benedikt Höwedes auch. Vielleicht saßen sie in ihrem Quartier in Evian vorm Fernseher nebeneinander und haben sich das 2:1 der Isländer gegen England angesehen. Irgendwann so Mitte der zweiten Halbzeit, als klar wurde, dass dieses Spiel wirklich so ausgehen könnte, hätten sie sich dann anschauen und wissend nicken können. Dann haben sie vielleicht noch das Smartphone rausgeholt und eine Nachricht an Kevin Großkreutz oder Marcel Schmelzer geschrieben: "Sehr ihr das? Wisst ihr noch?" Und wenn einer Humor hat, würde er zurückschreiben: "Klar, halten sich doch gut die Engländer. Wir haben damals vier Tore kassiert."

Am 11. August 2010 spielten Hummels, Höwedes, Großkreutz, Schmelzer in Reykjavik mit der deutschen U21 gegen Island und verloren 4:1. Die Tore für Island schossen Birkir Bjarnason, Gylfi Sigurdsson, Kolbeinn Sigthorsson und Alfred Finbogasson. Alle vier standen gestern gegen England im Kader, drei spielten von Beginn an (der Augsburger Finbogasson blieb draußen), Sighthorsson schoss ein Tor.

Überall ist jetzt von der Sensation der Isländer zu lesen, von einer der größten Überraschungen des Fußballs. Das mag stimmen, aber auf der anderen Seite fragt man sich, was eigentlich noch passieren muss, damit die Welt endlich erkennt, was diese Mannschaft kann. Denn bei aller berechtigten Euphorie und Liebe für den Außenseiter: Wenn man die Entwicklung des isländischen Fußballs ein bisschen verfolgt, ist der Einzug ins Viertelfinale keine so große Überraschung, wie es zunächst scheint. Der Erfolg hat viele Gründe. Zufall und Glück gehören nicht dazu.

Da wären einmal die nackten Ergebnisse: Island hatte sich schon beinahe für die Weltmeisterschaft in Brasilien qualifiziert und scheiterte in der Relegation knapp an Kroatien. In der Qualifikation zur EM schlug die Mannschaft die Türkei 3:0, die Niederlande 2:0 und 1:0 und die Tschechen 2:1. Als eines der ersten Teams sicherten sie sich die Qualifikation - viel eher als Deutschland. Wer diese Elf nach diesen Ergebnissen nicht ernst nahm, der musste schon oft weggeschaut haben.

Wer ein bisschen tiefer ins Detail gehen will, der kann sich die Struktur des isländischen Fußballs anschauen. Im Vergleich zur Einwohnerzahl hat Island die höchste Trainerdichte der Welt, gemessen an den A- und B-Lizenzen der Uefa (je nach Quelle sollen es um die 770 Trainer sein). Das reicht, um aus dem kleinsten Pool des Weltfußballs (die in jüngster Zeit vielzitierten 320 000 Einwohner) ungefähr 40 Kicker auszubilden, die einen Ball unfallfrei treten können und von denen die besten in den Ligen Englands, Deutschlands oder Frankeichs bestehen.

Für den Rest sorgen die Trainer Heimir Hallgrimosson und Lars Lagerbäck mit einer höchst konsequenten Taktik. Islands Fußball folgt dem Grundsatz: Was wir nicht können, das versuchen wir erst gar nicht.

Die zweite Halbzeit der Isländer taugt für ein Lehrvideo

Die Trainer lassen ein 4-4-2-System mit zwei Viererketten spielen. Das ist eigentlich mit das simpelste System, das man im modernen Fußball spielen kann, aber Island setzt es so konsequent um, dass es effektiv wird. In diesem System verschieben die zwei Ketten im Raum zum Ball. Der Spieler, der dem Ballführenden am nächsten ist, rückt aus der Kette raus und attackiert, die Nebenmänner stellen den Passweg zu. Wird der Ball weitergespielt fällt der Attackierer zurück in die Kette, ein anderer attackiert und so weiter. Die beiden Stürmer vorne haben nur eine Aufgabe: Unruhe zu stiften.

Das liest sich komplizierter als es ist, es gibt im Fußballtraining eine Übung, die nennt sich "Elf gegen Null." Eine Mannschaft steht in der eigenen Hälfte ohne Gegenspieler, die Trainer passen den Ball in der gegnerischen Hälfte hin- und her und das Team hat nur die Aufgabe, sich stets richtig zu formieren. Als ARD-Kommentator Tom Bartels in der zweiten Hälfte des 2:1 gegen England ständig von den "Abständen" sprach, meinte er genau das - die beiden Viererketten waren stets perfekt zueinander positioniert.

Fußballtrainer könnten die zweite Halbzeit der Isländer als 4-4-2-Lehrstück verwenden. Diese Taktik ist eigentlich nicht schwierig, sie ist eine Sache von Konzentration und Laufbereitschaft. Jedes Teil der Kette muss aber funktionieren und das Bewusstsein muss da sein, dass jeder Sprint ohne Ball entscheidend sein kann. Wenn das klappt, wird es für den Gegner extrem schwer, so einen perfekt verschiebenden Riegel zu knacken.

Die Isländer wissen, dass sie kompliziertere Mätzchen wie Pressing, Umschaltspiel oder Dribblings nicht beherrschen. Also lassen sie es auch. Island hat im Schnitt die zweitwenigsten Kurzpässe (knapp mehr als Nordirland) und die zweitwenigsten Dribblings des Turniers (knapp mehr als Tschechien). Sie spielen sich so keine schönen Tore heraus, verlieren aber auch nicht den Ball in der Mitte des Spielfeldes. Diese Leitlinien verriet Coach Hallgrimsson mal dem Nachrichten-Magazin Der Spiegel.

Es ist fast so, als ob der Rest der Teams bei der EM versucht, mit einem modernen Auto inklusive Klimaanlage, Rückfahrkamera und ABS zu fahren, Island aber mit einem alten Golf tuckert. Grundsolide, man versteht wie er funktioniert und es geht auch nix kaputt. Der Fußball ähnelt sehr dem von Darmstadt 98, die sich damit in der Bundesliga gehalten haben. Zwei ihrer Treffer hat Island etwa nach langen Einwürfen erzielt, darunter das 1:1 gegen England. Noch so ein simples Werkzeug. Und eigentlich leicht zu durchschauen: "Die langen Einwürfe sind eine Waffe, die wir oft nutzen", sagte der als Torschütze und Abwehrspieler überragende Ragnar Sigurdsson: "Das ist eigentlich keine Überraschung."

England, und das gehört auch zur Geschichte dieses 2:1, spielte allerdings so, als wären sie durchaus von alldem überrascht.

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