Fußball-EM:Geradeaus ist nicht genug

  • Überraschend verzichtet Joachim Löw bei der EM auf Marco Reus - der Dortmunder ist nicht rechtzeitig fit geworden.
  • Dem Bundestrainer sind zwei angeschlagene Spieler im Kader schon genug: Bastian Schweinsteiger und Mats Hummels.
  • Damit verpasst Reus nach der WM 2010 und der WM 2014 bereits das dritte Turnier kurzfristig.

Von Benedikt Warmbrunn, Ascona

"Vielleicht", sagte Joachim Löw, er setzte sich wieder, ruckelte am Mikrofon, "noch etwas zur Ergänzung." Dann ergänzte er ein paar Sätze zu den angeschlagenen Spielern, denen er eine Europameisterschaft zutraut. Spieler, die in den vergangenen Wochen nicht für sich werben konnten, weil ihre Körper ihnen die Werbung im Training versagten. Spieler, denen der Bundestrainer aber dennoch vertraut, denn darum sollte es in seiner Ergänzung gehen: Dass er durchaus bereit sei, einen angeschlagenen Spieler auch ein paar Tage oder Wochen ins Turnier hinein mitzuschleppen. Also sprach Löw über Bastian Schweinsteiger und Mats Hummels.

Der eine, Bastian Schweinsteiger, könne wieder "voll belastbar" trainieren, sagte Löw also, beim anderen, Mats Hummels, werde es "noch ein paar Tage dauern, klar". Beide würden beim Turnier aber zur Verfügung stehen, "nach Auskunft der Ärzte". Dann stand Joachim Löw auf, er setzte sich nicht wieder hin, er hatte ja nun alles gesagt, was er sagen wollte.

Etwas überraschend hatte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) am Dienstagmittag in Ascona den Bundestrainer in die Pressekonferenz geschickt, um seinen endgültigen Kader für die EM in Frankreich zu verkünden. Löw selbst hatte ja am Sonntag nach dem Testspiel gegen die Slowakei noch gesagt, dass er sich bis 23.59 Uhr und 45 Sekunden am Dienstagabend Zeit lassen wolle. Was, so korrigierte ihn der DFB-Pressesprecher zunächst am Dienstagmittag, laut der Regularien 45 Sekunden zu spät gewesen wäre. Aber so lange wollte Löw ja nun auch nicht mehr warten.

Reus verpasst nach der WM 2010 und der WM 2014 bereits das dritte Turnier kurzfristig

Ruhig nannte er die Namen der Spieler, die er aus dem Kader gestrichen hatte: Julian Brandt. Karim Bellarabi. Sebastian Rudy. Und: Marco Reus.

Der Leverkusener Brandt war ein Neuling im Kader, sein Name überraschte nicht. Bellarabi, Brandts Teamkollege, konnte wegen einer Zerrung zuletzt nicht trainieren, auch diese Entscheidung kam nicht unerwartet. Der Hoffenheimer Rudy war ebenfalls ein Wackelkandidat gewesen, obwohl er am Sonntag gegen die Slowakei einen sehr ordentlichen Auftritt als Rechtsverteidiger hatte. Aber Marco Reus?

"Die Mediziner können bei ihm keine klare Prognose abgeben", sagte Löw entschuldigend, er weiß ja, dass diese Personalie eine durchaus heikle ist. Für den Dortmunder ist es immerhin das dritte Turnier, das er kurzfristig verpasst. Bei der WM 2010 hatte ihn Löw für den Kader nominiert, damals musste der Offensivspieler aber aufgrund muskulärer Problemen absagen. Vor der WM 2014 verletzte Reus sich im letzten Testspiel, Diagnose: Teilriss im linken vorderen Syndesmoseband sowie ein knöcherner Bandausriss an der Fersenbeinvorderseite.

Nun, im Trainingslager der Nationalmannschaft in Ascona, konnte er nur individuell trainieren, offiziell wegen einer Adduktorenverletzung. Drei Tage vor der endgültigen Nominierung war das für Löw zunächst aber nur eine "leichte Vorsichtsmaßnahme". Dass Reus' Körper womöglich doch stärker angeschlagen ist, verriet erst später Sami Khedira, der von "länger anhaltenden Problemen am Schambein" berichtete.

Etwas Zeit bleibt Reus ja noch

Er habe die Entscheidung am Sonntag und am Montag "ausführlich" mit seinem Trainerteam besprochen, sagte Löw am Dienstag, auch mit den Ärzten habe er "eine klare Standortbestimmung gemacht". Danach war klar, dass er bei zwei Spielern ein gewisses Risiko eingehen wollte. Bei Schweinsteiger, obwohl dieser zuletzt Ende März für Manchester United gespielt hatte - der Kapitän der Nationalelf hatte jedoch bei der WM in Brasilien nachgewiesen, dass er auch mit ramponiertem Körper ein Turnier spielen kann; im Finale gab er selbst dann nicht auf, als ihm die Argentinier eine Platzwunde zugefügt hatten.

Und auch bei Hummels, der im Pokal- finale vor eineinhalb Wochen aufgrund eines Muskelfaserrisses ausgewechselt werden musste. Der zukünftige Münchner wird laut eigener Aussage voraussichtlich mindestens das erste Gruppenspiel verpassen, aber Löw glaubt dennoch, dass er sich auf den Innenverteidiger verlassen kann, der sich bei der EM 2012 und vor allem bei der WM 2014 als Leistungsträger erwiesen hatte. Reus dagegen, so berichtete es Löw, könne "nur geradeaus laufen", was ihm offensichtlich zu wenig ist bei einem Spieler, den er ja eher nominiert hatte, um auch einmal schräg oder im Zickzack über das Spielfeld zu laufen.

Bei dieser EM wollte er unbedingt den großen Titel gewinnen

"Ein Marco Reus in sehr guter Form und gesund und fit wäre eine enorme Bereicherung für uns gewesen", sagte Löw. Ihn, der in den vergangenen Jahren oft mit kleineren oder größeren Wehwehchen ausgefallen war, als dritten angeschlagenen Spieler mitzunehmen, war Löw aber offenkundig zu viel Risiko. Wobei er sich dabei selbst ein wenig aus der Verantwortung nehmen wollte. "Die Mediziner", sagte Löw, "waren sehr, sehr skeptisch, dass Marco in den nächsten Wochen bei einem zehrendem Turnier voll belastet werden kann."

Auch Reus selbst wusste wohl, dass es für ihn eng werden würde - laut Sami Khedira habe er "sehr, sehr gefasst" auf die Entscheidung des Bundestrainers reagiert. Der Flügelspieler weiß, dass er einen anfälligen Körper hat, er pflegt diesen sehr bewusst. Dennoch hatte er bis zuletzt gehofft, dass Löw auch ihm den Bonus von ein paar zusätzlichen Tagen geben werde. Er dachte dabei besonders an die Prognose des Bundestrainers, wonach er bei der EM zwei Mannschaften benötige. Eine gegen die eisern verteidigenden Gegner in der Vorrunde. Und eine gegen die spielstarken Teams in der K.o.-Phase - in dieser Mannschaft hatte sich Reus schon gesehen.

Bei dieser EM wollte er unbedingt den großen Titel gewinnen, der seiner Karriere noch fehlt. Dieser Ehrgeiz hatte ihn auch im Pokalfinale gegen den FC Bayern bis zum Ende der Verlängerung durchhalten lassen, im Elfmeterschießen hatte er als letzter Dortmunder getroffen. Dennoch war er am Ende wieder unter den Verlierern. "Ich bin mir sicher, dass Marco noch seine Chance auf großer Bühne bekommen wird", sagte Khedira.

Etwas Zeit bleibt Reus noch. Am Dienstag feierte er seinen 27. Geburtstag.

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