Fußball-EM:Das große Spanien ist passé

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Auch wenn die Ära del Bosque noch nicht offiziell vorbei ist - seine Tage als Nationaltrainer sind gezählt. (Foto: AP)

Die apathisch wirkenden Spanier müssen nach dem 0:2 gegen Italien das Ende einer Ära verarbeiten - und blicken gespannt dem Abschied von Weltmeistertrainer Vicente del Bosque entgegen.

Von Javier Cáceres, Paris

Irgendwann einmal, vielleicht, wird man erfahren, was ihm durch den Kopf schoss, als er an dem Ort, an dem er einen seiner größten Triumphe erlebt hatte, eine seiner größten Niederlagen zu verdauen hatte. Als er, Spaniens Nationaltrainer Vicente del Bosque, stumm auf den Rasen blickte, wo der eine oder andere seiner Spieler unter der Last der Enttäuschung und Erschöpfung zu kollabieren schien.

Hier, im Stade de France im Pariser Vorort Saint-Denis, hatte ja einst alles begonnen, als er im Mai 2000 mit Real Madrid in einem rein spanischen Champions-League-Finale seinen ersten wichtigen Titel als Trainer holte. Und hier nun feilte in seinem Rücken eine Armada spanischer Sportjournalisten an Berichten, die sich anderntags lesen sollten wie Todesanzeigen. 2:0 hatte Italien gewonnen, Spanien war damit im Achtelfinale der EM ausgeschieden, und del Bosque, 65, stand am Rand wie ein alter Mann, der einer düsteren Dämmerung entgegenblickte.

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Keiner seiner Spieler näherte sich ihm, kein Assistent aus seinem Trainerstab, kein Adabei vom Verband. Es war Italiens Trainer Antonio Conte, der del Bosques Einsamkeit durchbrach, ihm die Hand reichte, etwas ins Ohr flüsterte. Wer weiß schon, was? Die Wahrheit, die der Abend in Paris zutage förderte, war es eher nicht. Sie lautete: Das große Spanien der vergangenen Jahre ist passé. Zumindest auf Nationalelf-Ebene.

Del Bosques Tage als Nationaltrainer sind gezählt

Was haben sie nicht alles erreicht seit jenem Mai von Saint-Denis! Zwei Mal wurden die Spanier Europameister (2008 und 2012), erstmals Weltmeister (2010), sie erlangten die Diskurshoheit über den Fußball, ihr Stil machte Schule, die Klubs häuften Triumphe in europäischen Wettbewerben an, als gäbe es sie im Dutzend billiger. Nun lagen 90 Minuten hinter ihnen, die mit einem Platzregen begonnen hatten und sich hernach anfühlten wie die Variation der Verse eines berühmten Gedichts von César Vallejo. "Ich werde sterben in Paris, mit Wolkenbrüchen/schon heut erinnere ich mich jenes Tages . . ."

Auch wenn die Ära del Bosque noch nicht offiziell vorbei ist - seine Tage als Nationaltrainer sind gezählt. Am 14. Juli wird er mit Ángel María Villar sprechen, dem Präsidenten des Verbandes RFEF, danach werde man entscheiden. Das orientiert sich am Zeitplan Villars, der sich bis zum 20. Juli entscheiden muss, ob er für das Präsidentenamt des europäischen Fußballverbandes Uefa kandidiert. Seit der Demission von Michel Platini führt er ihn geschäftsführend. Sollte der affärenumtoste Villar kandidieren, würde er del Bosques Nachfolge in die Hände eines neuen spanischen Verbandschefs legen.

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Angeblich wird del Bosque bearbeitet, zumindest bis zum Auftakt der Qualifikation für die WM in Russland 2018 im September weiterzumachen. Del Bosque aber würde am liebsten sofort gehen und dem Fußball trotz diverser Angebote (laut Zeitung As auch aus der Bundesliga) den Rücken kehren. Doch er ist auch loyal. Bis zur Selbstverleugnung.

Das sah man auch seinem Team bei der EM an. In den ersten vier Spielen stellte er vier Mal die gleiche Elf auf, unter ihnen nur zwei echte Neulinge: die Offensivkräfte Nolito und Morata, die am Ende symbolhaft dafür standen, dass die zweite Reihe der Spanier nicht an jene Siegergeneration heranreichte, die vom Ideologen Xavi Hernández und Führungsspielern wie Casillas oder Xabi Alonso geleitet wurde - und Spaniens Fußball-Herrschaft so weltumspannend gestaltete wie das Reich von König Felipe II. Dort ging die Sonne nie unter.

Und nun? Als Favorit auf del Bosques Nachfolge gilt Joaquín Caparrós, der nicht als großer Innovator, wohl aber als Motivator mit eigentümlichen Ideen aufgefallen ist. Ein früherer Spieler namens Anderson Conceição verriet, dass Caparrós in der Saison 2012/13 bei Real Mallorca eine Teamsitzung mit Sequenzen aus einem Film der Kategorie "XXX" bestritt. "Eure Anspannung muss dieselbe sein, die dieser Schauspieler zeigt!", habe Caparrós gesagt. Mallorca stieg trotzdem ab.

Andererseits: Den Vorwurf mangelnder Einstellung mussten sich die spanischen Spieler nach dem 0:2 gegen Italien in St. Denis durchaus anhören. Niemand leugnete, dass die Spanier an einer grandiosen italienischen Mannschaft gescheitert waren, die taktisch, strategisch, physisch überlegen war. Das sah bei der WM in Brasilien 2014 noch anders aus. Damals unterlagen die Spanier erst den Niederländern (1:5), dann wurden sie von Chile (0:2) vorgeführt.

Die Pleite gegen Kroatien brachte Spanien in eine emotionale Schieflage

Gegen Italien gab es nun immerhin in der zweiten Halbzeit so etwas wie Gegenwehr, so ohnmächtig sie auch war. In der ersten Halbzeit hätten die Italiener höher führen müssen als nur mit 1:0; die Passivität beim Führungstor durch Giorgio Chiellini war nur das Symptom eines Mangels an Geistesgegenwart und Koordination. Als Torwart David de Gea den Freistoß von Éder abprallen ließ, waren vier italienische Angreifer präsent, aber nur ein spanischer Verteidiger: Gerard Piqué.

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Das Grundproblem war aber, dass die Spanier wie schon bei der 1:2-Vorrundenniederlage gegen Kroatien nicht imstande waren, die Kardinaltugend des ballbesitzorientierten Spiels abzurufen: den ersten Pass der Italiener zu unterbinden. Darauf fußte die erstaunliche Leichtigkeit, mit der die Italiener vors spanische Tor kamen. "Das Niveau ist nicht mehr dasselbe wie damals, als wir die EM und die WM gewannen", sagte Piqué.

Garstiger war Sergio Ramos, der beim Stand von 1:1 gegen Kroatien im Vorrundenspiel einen Elfmeter verschossen und damit den Wolkenbruch in Paris erst heraufbeschworen hatte - aus Eitelkeit, denn er war nicht vorgesehen als Schütze. Die Pleite gegen die Kroaten brachte die Spanier in eine emotionale Schieflage, weil sie in der schwierigeren Turnierhälfte landeten - und damit gegen Italien in Saint-Denis. Bissig wehrte sich Ramos gegen jede Kritik.

"Mit einer Tüte voller Kartoffeln oder auf dem Sofa lässt sich nach einer Niederlage leicht reden", sagte er. Weder Piqué noch Ramos warben dafür, dass del Bosque weitermacht, "er hat sich das Recht verdient, selbst zu entscheiden", sagte Piqué. Doch es wirkte, als wüssten sie, dass del Bosque geht - mit den feuchten Knochen, der Einsamkeit, dem Regen, den Wegen als Zeugen, wie es bei Vallejo hieß.

© SZ vom 29.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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