Fußball-EM:Coach O'Neill - zu gut für Nordirland?

Lesezeit: 3 min

  • Michael O'Neill hat die nordirische Nationalelf auf Erfolgskurs gebracht.
  • Ein namhafter Politiker fordert schon, ihn zum Ritter schlagen zu lassen. Mindestens.
  • Hier gibt es alle Tabellen und Ergebnisse zum Turnier in Frankreich.

Von Raphael Honigstein, Paris

Am 10. September 2013 lag Michael O'Neill in seinem Hotelbett in Luxemburg und dachte: Es ist vorbei. Seine Nordiren hatten ein paar Stunden zuvor 2:3 im Herzogtum verloren, das war der Tiefpunkt einer mit "peinlich" noch großzügig umschriebenen WM-Qualifikation mit nur einem Sieg und Platz fünf hinter Aserbaidschan in der Abschlusstabelle. "Mir war in dem Moment klar, dass man mich danach nicht mehr haben wollte", sagte O'Neill später über seine trübste Stunde im Amt, "und ich wusste auch nicht, ob ich selbst noch weitermachen wollte."

Zeitungen, Fans und nicht wenige einflussreiche Funktionäre forderten damals den Rausschmiss des ehemaligen Nationalspielers, der in der englischen Premier League unter anderem mit Paul Gascoigne bei Newcastle United zusammen gespielt hatte. Verbandschef Jim Shaw aber hatte die im Fußball seltene Gabe, über die katastrophalen Ergebnisse hinwegzusehen und dafür O'Neills grundsätzliche Arbeit mit der Mannschaft zu bewerten. Sie gefiel ihm, sehr. "Die Leistungen hatten sich ständig verbessert, außerdem hatte Michael neue Strukturen in der Nachwuchsausbildung geschaffen", erzählte Shaw: "Man erkannte, dass er einen Plan im Kopf hatte und diesen umsetzte."

Shaws Vertrauen wurde bestätigt. O'Neill, 46, führte die individuell nicht gerade mit internationalen Spitzenspielern bestückte Mannschaft als unbesiegten Gruppenersten durch die Qualifikation nach Frankreich, zum ersten Turnier seit 1986. Jim Wells, ein namhafter Politiker und früherer Minister im nordirischen Parlament Stormont, schlug daraufhin vor, O'Neill zum Ritter zu schlagen. Mindestens. "Der Mann hat ein Wunder verbracht, wir sollten ihn eigentlich zum Heiligen erklären", sagte Wells im Herbst.

Selbst ausgebootete Stammspieler applaudieren

Langjährige Beobachter wie Gerry Armstrong, der WM-Held von 1982, oder der frühere Kapitän Neil Lennon schwärmen von O'Neills Hingabe und detaillierter Gegneranalyse, vor allem über seine Fähigkeit, die vorwiegend in Schottland und der zweiten englischen Liga gescoutete Truppe zu einer Einheit zu formen, die "mit Freude verteidigt" (Lennon) und ihre Möglichkeiten in der Offensive maximal ausnutzt.

"Einen José Mourinho oder Roy Hodgson hätte man heute als Magier bezeichnet, das war eine Meisterleistung des Coaches", sagte Stürmer Josh Magennis nach dem 2:0-Erfolg gegen die Ukraine, der nun vom Achtelfinale träumen lässt. O'Neill hatte nach der 0:1-Niederlage gegen Polen die halbe Mannschaft sowie die Formation (Vierer- anstatt Dreierkette) verändert, selbst ausgebootete Stammspieler wie Kyle Lafferty (Norwich City) spendeten ihm nachher für diesen Mut Applaus. "Hand aufs Herz: Es war die richtige Entscheidung", sagte Lafferty, der gegen Deutschland am Dienstag wieder zu stürmen hofft.

Um den Erfolg des Landes mit gerade einmal 1,8 Millionen Einwohnern richtig einzuordnen, muss man wissen, dass der Nationaltrainer nach eigener Aussage für seinen Kader aus "33 bis 40 Profis" auswählen konnte. Mehr nordirische Profis gibt es nicht. "Wir müssen, wenn es sein muss, auch bei Fleetwood Town in der dritten englischen Liga suchen", sagt er. Dort hat er den Rechtsverteidiger Conor McLaughlin, 24, gefunden.

Mannschaften ohne Geld Stück für Stück zusammenzubauen, hat er nach der aktiven Karriere als Teilzeit-Assistenztrainer von Cowdenbeath in der dritten schottischen Liga gelernt, sein Honorar betrug damals 32 Euro in der Woche. Mit dem zweitklassigen FC Brechin stieg er 2006 in die dritte Liga ab. Da das Finanzunternehmen, für das er hauptberuflich gearbeitet hatte, pleite gegangen war, übernahm er zwei Jahre später die Shamrock Rovers.

Zwei Titel und eine historische Teilnahme an der Europa-League-Gruppenphase mit den Halbamateuren aus Dublin machten ihn im Dezember 2011 zum Nationaltrainer, als erster in Ulster geborener Katholik seit 50 Jahren. Das nordirische Team wird traditionell überwiegend von den Protestanten unterstützt, die Katholiken halten eher zu Irland. Obwohl die Spannungen in und um Belfast in den vergangenen Jahren enorm abgenommen haben, gab es 2002 Morddrohungen gegen Kapitän Lennon, vor knapp fünf Jahren wurde auf das Haus des ebenfalls katholischen Mittelfeldspielers Chris Baird ein Brandanschlag verübt.

"Am Anfang wurde aus meiner Religionszugehörigkeit eine große Sache gemacht", hat O'Neill im vorigen Jahr dem Guardian erzählt, "aber die Reaktion der Leute, im Stadion und überall, war unheimlich positiv. Dieser Aspekt der Geschichte ist der Allerschönste." Tatsächlich ist O'Neills "Green and White Army" etwas Unglaubliches gelungen: Sie haben die Bevölkerung hinter sich vereint. Laut einer Studie des Verbandes glaubten 71 Prozent der Befragten, dass das ganze Land dem Team in Frankreich die Daumen drücken würde.

"Früher sah man Vereinstrikots, die Leute zeigten damit, auf welcher Seite sie standen, heute trägt jeder ein Nordirland-Hemd", sagt Michael O'Neill. Drei Jahre nach dem Desaster von Luxemburg ist es der Verband, der Angst hat, ihn an eine größere Mannschaft zu verlieren. "Syrien!", wie es der offensichtlich mit sehr viel diplomatischem Geschick versehene Übungsleiter aus Scherz sagt, wird es aber eher nicht werden.

© SZ vom 21.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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