Fußball-Bundesliga:Warum Werder Bremen plötzlich so gut ist

FUSSBALL 1 BUNDESLIGA 29 SPIELTAG SAISON 2016 2017 SV Werder Bremen Hertha BSC Berlin 29 04 2017

Sind bei Werder Bremen derzeit für die Tore zuständig: Max Kruse (links) und Gratulant Fin Bartels.

(Foto: imago)
  • Noch zur Winterpause galt Werder Bremen in der Bundesliga als Abstiegskandidat. Dann hat sich die Saison gedreht.
  • Mittlerweile kämpft Bremen um den Europacup. Einige glauben, das hat mit dem Trainer zu tun.
  • Hier geht es zur Tabelle der Fußball-Bundesliga.

Von Ralf Wiegand, Bremen

Die Statistiken, die sich in jüngster Zeit um Werder Bremen herumstricken lassen, sind voller Superlative, wie man sie sonst nur aus dem Tierreich kennt. Dort war vor Kurzem etwa von einer Ameise zu hören, die das Hundertfache ihres Gewichts geschleppt hat - ein Wissenschaftler hat das fotografiert und dafür einen Wissenschaftspreis gewonnen. Werder Bremen zählt seit sieben Jahren, als mit der Saison 2009/2010 eine Ära des Erfolges endete, auch zu den kleinen Tieren im großen Fußball, nur ohne Superkräfte: Der Verein wurde schon vom eigenen Gewicht fast erdrückt. Nie mehr erreichte der viermalige Meister auch nur annähernd das Niveau von damals. Bis heute.

Irgendjemand, dieser Verdacht liegt nahe, hat eine fundamentale Veränderung an der Weser herbeigeführt, und offenbar glauben einige Menschen, dass das der Trainer war. Alexander Nouri, 37, ist dafür von (zugegebenermaßen sehr wenigen) Lesern des Sat 1-Videotextes sogar vorzeitig zum Trainer der Saison gekürt worden, eine sinnfreie Spielerei.

Allerdings muss den Wählern ihr Votum schon ein ernstes Anliegen gewesen sein, denn jeder musste 25 Cent bezahlen, um per Telefon seine Stimme abzugeben. Nouri hatte die Mannschaft vor dem fünften Spieltag auf Platz 18 übernommen, mit null Punkten; nach dem 20. Spieltag lag sie noch immer auf dem Relegationsplatz. Nun spielt sie an diesem Freitag beim 1. FC Köln mal wieder ein sogenanntes Sechspunktespiel - diesmal aber nicht im Kampf um den Klassenerhalt, sondern um die Qualifikation für die Europaliga.

Werder gewann neun von elf Spielen

Seit jenem 20. Spieltag hat Werder keines der folgenden elf Spiele mehr verloren, sogar neun gewonnen. 29 Punkte in dieser Phase sind die beste Bilanz aller Bundesligisten, sogar der FC Bayern München holte fünf Punkte weniger. Das lässt sich noch weiter spinnen: Nur zwei Klubs in den anderen großen europäischen Ligen haben in dieser späten Saisonphase im vergleichbaren Zeitraum - den letzten elf Spielen - mehr Punkte geholt als die Bremer: AS Monaco und Tottenham Hotspur. Auch im internationalen Maßstab ist die Serie der Bremer also bemerkenswert, zumal gegen Ende einer Spielzeit, in der den Ameisen aus dem Prekariat des Fußballs normalerweise die Kraft ausgeht.

Wenngleich alles so aussieht wie früher und sich im dauerfrohen Weserstadion auch so anfühlt wie früher - es ist doch alles anders als früher. Werder Bremen hat sehr lange gebraucht, um sich vom Stil der Nuller-Jahre zu verabschieden. Damals verfügten die Bremer über eine der spielstärksten Mannschaften der Liga, technisch beschlagen, offensiv und dominant. Über viele Jahre kickten herausragende Akteure an der Weser, denen noch heute die größtmögliche Verehrung zu Teil wird, Johan Micoud etwa, der Brasilianer Diego, Mesut Özil am Beginn seiner Kariere, der junge Pizarro, der verrückte Ailton, der besessene Torsten Frings. An der Philosophie, dass solche Leute immer in der Lage sind, ein Tor zu erzwingen, wenn sie nur bedingungslos nach vorne spielen, hielten die Trainer von Thomas Schaaf bis zu Nouris Vorgänger Viktor Skripnik eisern fest. Sie ignorierten, dass die Abwehr, in der Bremen eine nicht minder beeindruckende Ahnengalerie von Rune Bratseth über Per Mertesacker bis zu Sokratis aufweist, ihren Beitrag zu diesem Hasardeurspiel schon nicht mehr leisten konnte, und die Genies, eines nach dem anderen, verkauft werden mussten, um fehlende Erfolge finanziell zu kompensieren.

Robin Dutt (Trainer) und Thomas Eichin (Sportdirektor) verzweifelten fast an dieser nostalgischen Sehnsucht nach dem schönen Spiel und redeten den Klub klein und kleiner, bis er sportlich tatsächlich ein Zwerg war. Dutts Nachfolger Skripnik, ein so genanntes Werder-Urgestein, beschwor indes das alte, wunderbare Werder. Es trug ihn fünf glorreiche Spiele, dann rutschte das Team wieder ab. Eine Balance für die neue Zeit fand auch er nicht.

Alexander Nouri ist nun der erste Trainer, der sich auf die Verhältnisse eingestellt und die Bremer Mannschaft stabilisiert zu haben scheint. "Wir lauern wie eine Schlange und schlagen zu, wenn wir die Chance kriegen", beschreibt der Däne Thomas Delaney diese Qualität. In lediglich zwei jener elf Spiele ohne Niederlage stehen in den Statistiken mehr Torschüsse für Werder als für den Gegner; acht Mal kamen die Bremer zu weniger Eckstößen, nur zwei Mal liefen die Profis in Grün-Weiß aufaddiert mehr als das andere Team. Daten einer klassischen Kontermannschaft.

Für Max Kruse ist Bremen zum richtigen Umfeld geworden

Der noch formbare Trainer Nouri passt in die Strategie des neuen Sportchefs Frank Baumann und von Marco Bode, dem Aufsichtsratsvorsitzenden. Beide waren früher Säulen derselben goldenen Werder-Generation, waren Spieler, die mitgeredet haben. Bei Werder sind sie angetreten, um eine Entwicklung einzuleiten, nicht, um den Effekt zu suchen. Das ist im auf den Effekt getrimmten Fußball die schwierigere Aufgabe. Effekte kommen sofort, Entwicklungen dauern.

Erste Maßnahme war die Verkleinerung des Profikaders. Der Hamburger SV kommt erst jetzt, drei Spieltage vor Schluss, darauf, dass eine zu große Trainingsgruppe auch große Unruhe bedeuten kann - Trainer Markus Gisdol degradierte gerade drei Spieler. Auch Werder hatte über Jahre den Kader immer weiter aufgebläht, erst Frank Baumann verkaufte oder verlieh viele Spieler zur Not auch zu ungünstigen Konditionen oder versetzte sie in die zweite Mannschaft wie Sambou Yatabaré, einen 2,5-Millionen-Euro-Einkauf aus Piräus. In diesem Prozess musste auch Trainer Nouri ein Opfer bringen und sich von der Idee verabschieden, die traumhafte Aschenputtel-Geschichte des Angreifers Ousman Manneh, 20, fortzuschreiben. Der Flüchtling aus Gambia war von Nouri unter Blitzlichtgewitter erst in die Bundesliga gehievt und später ins eigene Farmteam zurückgeschickt worden.

Das lässt auf eine gewisse Lernfähigkeit des Trainers während seiner ersten Station in der Bundesliga schließen. In manchen Phasen der Saison rief nicht Nouri die Spieler an die Außenlinie, um Anweisungen zu geben, sondern die Strategen wie Claudio Pizarro oder Clemens Fritz kamen zu ihm, gaben Hinweise, und Nouri nahm sie auf. Das Copyright an einem sehr feinen Freistoßtrick überließ er seinem Co-Trainer. Nouri hebt stets die Teamleistung hervor, die Kommunikation, die Einheit der Mannschaft. Wenn die von Sieg zu Sieg eilenden Spieler nun ihre Ovationen bei den Fans abholen, bleibt Nouri im Mittelkreis, aus der Ferne sieht er staunend zu. Die Signale, die er sendet, sind nicht die eines Egoisten.

Werder vor Barça und Juve

Vergleicht man die Punkteausbeute der vergangenen elf Spieltage in den fünf europäischen Top-Ligen (Deutschland, Spanien, England, Italien, Frankreich), liegt Werder Bremen mit 29 Punkten auf Platz drei, noch vor diversen Großklubs. Hier die acht besten Vereine (in der Klammer: die tatsächliche Platzierung in der jeweiligen Liga).

1. (1.) AS Monaco, 31 Punkte

2. (2.) Tottenham Hotspur, 30

3. (6.) Werder Bremen, 29

4. (2.) Paris St. Germain, 28

5. (1.) FC Barcelona, 27

6. (1.) Juventus Turin, 27

7. (2.) Real Madrid, 26

8. (3.) Atlético Madrid, 26

Der FC Bayern kommt im gleichen Zeitraum übrigens - wie die TSG Hoffenheim - auf 24 Punkte, Borussia Dortmund auf 23.

Dennoch war das nun sichtbare Potenzial im Kader noch nicht einmal dann zu erkennen, als die sagenhafte Serie schon begonnen hatte. Das Spiel gegen Darmstadt war vielleicht das schwächste Heimspiel im Weserstadion seit Menschengedenken. Werder gewann es irgendwie 2:0, es war damals schon der dritte Sieg hintereinander. Dennoch saß Alexander Nouri später bedröppelt in der Pressekonferenz und musste weiter um seinen Job fürchten.

Es gab nie einen Anlass für die Bremer, überheblich zu werden

Doch das Spiel war, weiß man heute, die Wende: Zuvor hatte Werder nur wenige solcher Muss-Siege nach Hause bringen können. Diesmal war es, wenn auch auf fürchterlich anzusehende Weise, gelungen. Spätestens da hat die Mannschaft wohl begriffen, dass sie nicht dominieren muss, um gewinnen zu können. Dazu stellte sich das Spielglück ein, etwa ein gehaltener Elfmeter in Leverkusen in der sechsten Minute der Nachspielzeit oder 27 Torschüsse des VfL Wolfsburg - von denen nur einer reinging. Es gab nie einen Anlass für die Bremer, überheblich zu werden.

"Kein Spieler ist größer als das Team", sagte deshalb Robert Bauer nach dem jüngsten Sieg gegen Berlin. Das dürfte ganz oben stehen auf der Liste mit "Prinzipien", die Nouri immer wieder anführt, wenn er den Erfolg erklären soll. Teamgeist beschwören, jeder für jeden da sein: Dass es diese Werte im Fußball noch gibt, hat im vergangenen Jahr Leicester in England bewiesen, beweist gerade auch Darmstadt 98 - und eben Werder. Der Kader hält inzwischen sogar Zumutungen aus wie die Nicht-Berücksichtigung von Serge Gnabry für die Startelf, obwohl er seit Längerem wieder von einer Verletzung genesen ist und von vielen Vereinen umworben wird. Einzig der lange Zeit umstrittene, inzwischen aber völlig unumstrittene Torwart Felix Wiedwald ist brummig, weil mit ihm immer noch niemand über einen langfristigen Vertrag sprechen will. Ein brummiger Wiedwald ist allerdings höchstens so gefährlich wie ein wütender Hamster.

Der Zufall spielt natürlich auch immer noch eine Rolle bei jedwedem Fußball-Wunder, aber in Bremen nicht die entscheidende. Dass Clemens Fritz sich verletzte, war so ein Zufall. Es entband Trainer Nouri von der moralischen Pflicht, seinem verdienten, am Ende der vergangenen Saison zum Bleiben überredeten Kapitän eine zentrale Rolle zu überlassen. Jetzt spielen dort Florian Grillitsch und der 20-jährige Maximilian Eggestein diese Rolle viel moderner, ist mit dem Dänen Delaney ein neuer Leader da. Die Elf steht stabil und lässt inzwischen sogar magische Momente zu.

Für die sind derzeit Fin Bartels und Max Kruse zuständig. Der eine, Bartels, ist für die Bremer so etwas wie ein Flohmarktfund für einen Antiquitätensammler, von vielen offenbar übersehen, günstig erworben und heute ein Schmuckstück. Bartels ist ein sehr vernünftiger junger Mann, der mit seinen Kindern auch mal alleine auf den Rummelplatz geht. Also das Gegenteil von Max Kruse. Aber auch für den etwas sonderbaren Angreifer hat sich Bremen, wie für so viele sonderbare Typen vor ihm, als Biotop erwiesen. Etwas abseits der Boulevard-Metropolen spielen seine privaten Interessen kaum noch eine Rolle. Stattdessen, scherzte Thomas Delaney, habe Kruse ihm diese Woche erzählt, "er sei im April besser als Messi. Ich habe ihm geantwortet: Messi macht das seit zehn Jahren. Manchmal übertreibt Max es etwas, aber du brauchst solche Spieler wie ihn." Wie die Ameisen ihre Königin.

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