Frust trotz 1:0-Sieg -:Auf der Ehrenrunde fliegen Bierbecher

Unverdiente Schalker Sieger werden abgestraft, Paderborns Verlierer dagegen gefeiert.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Sie haben dann doch gejubelt, als der Ball in der 88. Minute plötzlich im Tor des Gegners lag. Ein Torschrei ging durch die Arena, so laut und erleichtert und selig wie immer, und Ralf Fährmann, der Schalker Torwart, drehte sich um zur Fankurve und ballte die Faust, als ob er meinte, nun sei alles wieder gut. Aber nichts ist gut in der Schalker Familie, daran hat auch der 1:0-Sieg gegen Paderborn und die damit verbundene Qualifikation für die Europa League nichts geändert. Fährmann und seine Mitspieler haben es erfahren, als fünf Minuten später Schiedsrichter Meyer das Spiel beendete und ein anhaltend schriller Pfeifton von den Rängen kam — die Quittung für einen miserablen Auftritt und das Zeugnis einer grundlegenden Verstörung im Verhältnis zwischen der königsblauen Profimannschaft und dem Publikum.

Den Spielern aus Paderborn konnte es ziemlich egal sein, welche emotionalen Irrungen sich gerade im Lager des Gegners abspielten. Sie hatten ihr eigenes Schicksal zu beklagen. Die Niederlage in Gelsenkirchen hat den Aufsteiger an den Rand zur zweiten Liga gebracht. Die schlechten Nachrichten von den anderen Plätzen wurden den Akteuren auf dem Spielfeld übermittelt. Es herrschte extreme Trübsal.

"So was von unverdient!"

"Eigentlich unfassbar, dass wir nach so einem Spiel als Verlierer den Platz verlassen. Das ist sowas von unverdient", sagte wenig später Moritz Stoppelkamp. Bezeichnenderweise hatte das Tor des Tages kein Schalker, sondern der Paderborner Kapitän Hünemeier fabriziert. Im Zweikampf mit Huntelaar verlängerte er eine aus Verzweiflung geschlagene Halbfeldflanke ins lange Eck. Ein größeres Missverhältnis zwischen Glück — auf einmal im Europacup — und Pech — auf einmal halbwegs abgestiegen — kann so ein Zufallstor kaum auslösen.

Frust trotz 1:0-Sieg -: Gekommen, um sich auspfeifen zu lassen: Schalkes Spieler stehen nach dem schmucklosen 1:0-Sieg gegen Paderborn vor der Fankurve.

Gekommen, um sich auspfeifen zu lassen: Schalkes Spieler stehen nach dem schmucklosen 1:0-Sieg gegen Paderborn vor der Fankurve.

(Foto: Martin Meissner/AP)

Während die Paderborner vor ihrer Fankurve den Lohn für einen couragierten Auftritt erhielten, suchten die Schalker zügig das Weite. Sie wussten, dass sie keine Sympathien zu erwarten hatten und nahmen Zuflucht in der Kabine, was die Leute im Fanblock noch mehr erboste. Nach zehn Minuten kehrten die Spieler zurück und stellten sich dem Volkszorn. "Der Trainer und die Spieler haben das gemeinsam entschieden", teilte Manager Horst Heldt mit.

Personenschutz für Manager Heldt

Die Mannschaft drehte (ohne Benedikt Höwedes, der mit einer Sprungelenksverletzung auf dem Weg ins Krankenhaus war) sogar eine komplette Runde übers Spielfeld, und das war bestimmt eine der bizarrsten Ehrenrunden der Vereins- und der Fußballgeschichte, denn es waren zwar ungewöhnlich viele Zuschauer auf ihren Plätzen geblieben, niemandem aber stand der Sinn nach Beifall. Stattdessen wurden Bierbecher nach den Profis geworfen, und es wurde mit einer solchen Passion auf die Akteure geschimpft, als ob ein jahrelanger stiller Ehekrieg plötzlich zum Ausbruch gekommen wäre. "Es war nicht angenehm", sagte Trainer Roberto Di Matteo in der ihm eigenen reservierten Art. "Aber es war wichtig, dass wir rausgegangen sind und uns gezeigt haben." Manchem Fan genügte die Geste nicht. Eine stattliche Abordnung der Ultras blockierte die Abreise für die Besucher von den besseren Plätzen. Ordner sicherten die Tür, Horst Heldt ("Das ist heute kein schöner Tag") erhielt Personenschutz, als er in Sichtweite der Zornigen durch das gläserne Foyer ging.

Schema & Statistik

Alle Daten und Fakten zum Spiel stehen hier.

Dabei hatte Roberto Di Matteo bei den Schalkern kräftig umgebaut. Fünf Neue standen im Vergleich zur heftig inkriminierten Vorwochenpartie in Köln (0:2) in der Startelf, Max Meyer erhielt den Posten auf der offensiven Schaltstelle, Klaas-Jan Huntelaar kehrte in die Angriffsmitte zurück. Wiedergutmachung hatten die Königsblauen versprochen, und dafür zu "starken Maßnahmen" (di Matteo) gegriffen - die Verbannung von Boateng, Sam und Höger sollten den Willen zum Durchgreifen verdeutlichen. Doch die erwünschte Wirkung blieb aus. Angst und Unsicherheit verfolgten die Schritte der Schalker Spieler wie Schatten, Spieler wie Matip, Aogo oder Kirchhoff agierten, als würden sie von Panik getrieben. Fehlpässe, die im Freizeitfußball unverzeihlich wären, prägten das Geschehen.

Paderborn erspielt sich ein halbes Dutzend Chancen

Auf Paderborner Seite konnte man diese Eskalation der Gefühle nicht ganz verstehen, zumindest nicht nach diesem Spiel, denn es war aus ihrer Sicht ja keine Schande, dass der hochdotierte Gegner weite Strecken der Partie so minderbemittelt und hilflos ausgesehen hatte. "Die Schalker haben so schlecht ausgesehen, weil wir richtig gut waren", meinte Stoppelkamp. Auch Trainer André Breitenreiter fühlte sich aufgerufen, ein weiteres Mal gegen ein ständiges Vorurteil anzugehen. "Das wir kein Kanonenfutter sind, das haben wir in dieser Saison schon oft genug unter Beweis gestellt", erklärte er. "Dominant, mutig, spielfreudig" hatte er sein Team gesehen, "wir hätten klarer Sieger sein müssen". Er übertrieb nicht.

Gleichwohl waren die Paderborner natürlich selbst schuld, dass sie das halbe Dutzend guter Chancen nicht zu nutzen wussten, das hat auch Breitenreiter nicht verschwiegen. "Fußball ist halt Ergebnissport", stellte er fest. Das Toreschießen ist die einzige Disziplin, in der sich die Paderborner nicht als erstligareif erweisen, in Gelsenkirchen haben sie das nicht zum ersten Mal erfahren müssen. Sicherlich werde er jetzt ein paar Tage brauchen, um seinen Spielern den Frust auszutreiben, sagte Breitenreiter, "die Chancen sind nicht gestiegen nach diesem Tag, aber es ist noch alles möglich". Paradoxerweise könnten die Schalker die dafür nötige Schützenhilfe leisten: Ein Punktgewinn beim Hamburger SV könnte den Paderbornern — deren Heimsieg über Stuttgart vorausgesetzt — noch zum Sprung auf den Relegationsplatz verhelfen.

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