Frauenfußball:Die Hoffnungsjägerin

Meisterfeier des FC Bayern München auf dem Münchner Marienplatz, 2015

Ein Bild aus schöneren Zeiten: Lena Lotzen feiert 2015 mit Bastian Schweinsteiger die gemeinsame Meisterschaft der Männer- und der Frauenmannschaft des FC Bayern München auf dem Rathausbalkon.

(Foto: Robert Haas)

Lena Lotzen warf ihr zweiter Kreuz- und Innenbandriss zurück - doch von ihrer langen Verletzungsserie lässt sie sich nicht entmutigen.

Von Anna Dreher

Eigentlich hatte Lena Lotzen geglaubt, sie sei diese Bilder endlich los. Schmerzverzerrtes Gesicht, Tränen in den Augen, damit wollte sie nicht mehr in Verbindung gebracht werden. Sie wollte lieber die jubelnde Lena sein, wie früher. Beim Champions-League-Spiel zwischen dem FC Bayern München und Paris St. Germain im März kamen die Bilder wieder. Lotzen wurde in der 56. Minute eingewechselt, sie freute sich, aber nach nur zwei Minuten knickte sie um. Sie ist aufgestanden, hat weitergemacht. Bis die Schmerzen unerträglich wurden. Lotzen spürte schon früh, was ihr die Ärzte zwei Tage später sagten: Kreuz- und Innenbandriss im linken Knie. Sie hat sich dann mit Tränen in den Augen vom Rasen geschleppt, direkt in die Kabine, Hauptsache weg vom Spielfeld.

Ausgerechnet Lena, dachten viele. Ausgerechnet ich, dachte sie.

Wieder zurückgeworfen worden zu sein, kämpfen zu müssen - Lotzen sieht das auch als Chance

Sieben Wochen nach diesen Szenen ist sie operiert worden. Alles ist gut verlaufen, sagt sie am Telefon, sie soll in Ruhe regenerieren und sich nicht zu viel bewegen. Ihr wird jetzt wieder diese Frage gestellt, die eigentlich eine alltägliche ist, für Lotzen aber phasenweise fast schon zur Qual wurde. Was soll sie auch antworten? "Es ist natürlich schön, wenn sich viele nach mir erkundigen und wissen wollen, wie es mir geht. Aber für mich ist diese Frage einfach nicht leicht", sagt Lotzen. Wenn am 16. Juli die Europameisterschaft in den Niederlanden beginnt, wird sie zu Hause vor dem Fernseher sitzen und Länderspiele anschauen, für die sie lieber aufgestellt worden wäre. Wieder zurückgeworfen worden zu sein, wieder kämpfen zu müssen, die Hoffnung nicht zu verlieren - darin liegt ihr eigentlicher Schmerz. Aber Lotzen, 23, sieht ihre Situation auch als Chance.

Ihre Geschichte als eines der größten deutschen Talente im Frauenfußball wird immer auch eine Geschichte von Verletzungen sein. Sie nehmen in den vergangenen Jahren mehr Platz in der Biografie der Offensivspielerin ein als ihre Zeit auf dem Rasen. Es ist nicht leicht für Lotzen, damit umzugehen, ein paar Mal war sie kurz davor, alles hinzuwerfen. "Es gab Phasen, in denen nichts vorwärts ging. Da habe ich mich schon gefragt, warum mache ich das eigentlich?", sagt die Unterfränkin. "Aber ich bin jemand, der kämpft. Ich kann mich nicht damit abfinden zu sagen: Okay, es sollte nicht sein, ich höre auf."

Anfang Februar hatte sie nach 586 Tagen Zwangspause wegen zweier Meniskus-Operationen ihr Comeback gefeiert. Mal wieder. Im September 2013 brach sich Lotzen im Training den Mittelfuß. Nur zwei Monate später brach ihr Fuß im Aufbautraining an der gleichen Stelle erneut und sie musste operiert werden. Im August 2014 riss, wieder im Training, ihr Kreuz- und Innenband im linken Knie - Operation, acht Monate Pause. Die athletische Stürmerin, die vor allem von ihrer Schnelligkeit und Beweglichkeit lebt, blieb ruhig. Sich aufzuregen und durchzudrehen, sagte sie damals, davon werde sie auch nicht schneller fit. Stattdessen trainierte sie, sobald es ging und so viel möglich war. So, wie sie es immer getan hatte.

Lotzen ist früh aufgefallen. Bei ihrem Heimatverein TG Höchberg war sie das einzige Mädchen, auch beim Fußball-Stützpunkt gab es keine anderen, sie spielte zusammen mit 117 Jungs. "Ich habe durchgezogen, die haben durchgezogen - kein Problem. Dann haben die manchmal hinterher erst gemerkt: Oh, da hat ein Mädchen mitgespielt", erzählte Lotzen in einem Interview. Diese Wettkampfhärte machte sie schnell begehrt. Mit 16 Jahren verpflichtete sie der FC Bayern München. In ihrer ersten Saison debütierte Lotzen gleich am ersten Spieltag in der Bundesliga. Mit 18 wurde sie DFB-Pokalsiegerin, mit 21 und 22 Jahren Deutsche Meisterin.

Beim Deutschen Fußball-Bund hat sie von der U15 an alle Jugendauswahlen durchlaufen, bis sie im Februar 2012 von Bundestrainerin Silvia Neid für die Nationalmannschaft nominiert wurde. Es ist wohl als Ironie des Lebens zu verstehen, dass Lotzen es früher als erwartet in den Kader schaffte, weil die Wolfsburgerin Martina Müller ihre Teilnahme am Algarve-Cup absagen musste - verletzungsbedingt. Neid bezeichnete Lotzen als "echte Straßenfußballerin", lobte ihren Einsatz und ihr Gespür. Sie gab ihr die Rückennummer "9", die im Frauenfußball vor allem Rekordnationalspielerin Birgit Prinz geprägt hat. In diesen Kategorien wurde bei Lotzen damals gedacht. 2012 gewann sie den Algarve-Cup und wurde 2013 Europameisterin. Dann kamen die Verletzungen.

Nach ihrem ersten Kreuz- und Innenbandriss kämpfte sie sich gerade rechtzeitig zurück, um 2015 mit zur Weltmeisterschaft nach Kanada zu reisen. Nach dem Turnier aber machte ihr Knie wieder Probleme. "Es gab eine lange Phase, in der unklar war, wie es weiter geht. Ich habe nicht gespielt und hatte trotzdem Schmerzen, die ich nicht definieren konnte. Das war sehr schwer für mich", sagt Lotzen. Sie haderte, zweifelte. Als die Nationalmannschaft in Brasilien bei den Olympischen Spielen Gold gewann, saß sie mit einem Kloß im Hals vor dem Fernseher. "Aber es ist nun mal passiert und ich habe immer versucht, das Beste daraus zu machen."

Das Beste hieß für sie neben täglichen Reha- und Trainingsstunden auch der Beginn eines Studiums. 2013 schrieb sich Lotzen an der Berliner Hochschule für Sport und Gesundheit für ein Fernstudium der Sportwissenschaften ein. Ohne die langen Verletzungsphasen hätte sie das zu diesem Zeitpunkt wohl nicht gemacht, sie hätte von Spieltag zu Spieltag gedacht und an die nächsten drei Punkte. Lotzen sieht vor allem in den 586 Tagen inzwischen aber nicht nur, was sie sportlich verpasst hat und nicht mehr aufholen kann. Sie weiß auch, was sie gewonnen hat: einen Eindruck davon, wie das Leben nach dem Profisport aussehen kann. "Da habe ich einen Vorsprung gegenüber anderen. Man weiß ja nie, wann es dann tatsächlich vorbei ist", sagt Lotzen. "Ich kenne dieses Leben jetzt schon."

Die Mannschaft des FC Bayern, in der sie einst Leistungsträgerin war, musste sie neu kennenlernen

Es gefällt ihr, aber leben möchte sie dieses Leben noch nicht. Auch wenn sie die lange Zeit der Verletzungen, in der sie sich mehr Gedanken über Themen abseits des Fußballs machte, verändert hat - ihre Liebe zum Fußball ist geblieben. Sie will zurück auf den Platz. Sie hat sich gezeigt, dass das möglich ist. Und sie hat Kraft gezogen aus dem Beispiel anderer, die ähnliches oder schlimmeres durchgemacht haben, wie etwa Holger Badstuber. Lotzen hat Bücher über den Umgang mit Rückschlägen gelesen, sie hat sich Videos angeschaut: "Zu sehen, was möglich ist, hat mir Mut gegeben. Sagen zu können: Das ist jetzt nicht das Ende meiner Karriere."

Die Mannschaft des FC Bayern München, in der sie einst Leistungsträgerin war, musste sie immer wieder neu kennenlernen. Wenn sie konnte, schaute sie beim Training vorbei, das war ihr wichtig - nur nicht den Anschluss verlieren. Lotzen ging zu Heimspielen, sie freute sich über Siege und litt bei Niederlagen. Sie wollte nie sagen, sie komme nicht, weil sie nicht spielen kann. Gedacht hat sie es trotzdem. Dasitzen, zuschauen, nichts tun können - so eine Verletzung kann auch dann noch weh tun, wenn man körperlich kaum Schmerzen hat.

In den letzten dreieinhalb Jahren hat Lotzen gerade einmal 19 Pflichtspiele im Bayern-Trikot absolviert. Trotzdem ist ihr Vertrag im April 2016 bis zum 30. Juni 2018 verlängert worden, sie gehört immer noch dazu. "Ich merke, dass ich hier nicht fallen gelassen werde. Das macht viel aus", sagt die 23-Jährige. Nach dem Spiel gegen Paris stand nicht das Champions-League-Aus im Vordergrund, es war Lotzens Verletzung. "Diese Hiobsbotschaft schmerzt noch mehr als die Niederlage", sagte Karin Danner, Managerin der Frauen des FC Bayern, damals. Vor dem Champions-League-Spiel gegen Paris stand Lotzen in der Bundesliga gegen Bayer Leverkusen zum ersten Mal wieder in der Münchner Startelf - und schoss den 1:0-Siegtreffer, eine emotionale Befreiung nach der schwierigen Zeit. Sie war wieder Mannschaftsspielerin, nicht mehr Einzelkämpferin, sie war wieder die Lena von früher. Alle dachten, sie würde das jetzt bleiben.

Im August steht eine weitere Operation an, im September könnte die Reha beginnen, so genau weiß Lotzen das noch nicht - sie hat aufgehört, in festen Zeiträumen zu denken. Hauptsache, sie kann bald zurück auf den Fußballplatz. "Ich bin dankbar für das, was ich schon alles erreicht habe", sagt sie. "Abgesehen von den vergangenen drei Jahren ist meine Karriere perfekt gelaufen. Ich glaube, deswegen kann ich auch nicht loslassen." Lena Lotzen will einfach nur wieder das sein, was sie lange Zeit war: eine der besten Fußballerinnen Deutschlands.

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