Frankreich:Erholung im Wald

Die Mannschaft des Gastgeberlandes macht jetzt eine Woche Pause - und rätselt weiter über seine Form bei dieser EM.

Von Claudio Catuogno, Lille

Der Sonntag neigte sich dem Ende zu im Stade Pierre Mauroy, Didier Deschamps lief dem Ausgang entgegen und rief zum Abschied: "Bis Sonntag!"

Eine ganze Woche haben die Franzosen jetzt Pause. Eine Woche mag einem nicht sehr lang vorkommen, wenn man sie zum Beispiel in Paris verbringt. Wenn man sie auf einem Landgut im einem schier endlosen Wald in der Nähe von Clairefontaine-en-Yvelines verbringt, was eine 813-Seelen-Gemeinde in der Nähe von Rambouillet ist, was wiederum eine 15 Regionalbahn-Stationen von der Hauptstadt entfernt liegende 25 900-Einwohner-Kleinstadt ist (in der immerhin Konrad Adenauer und Charles de Gaulle einst die deutsch-französische Freundschaft begründeten) - dann kann sich eine Woche schon mal ein bisschen hinziehen. Und wenn man dann auch noch die französische Nationalmannschaft ist, mit ihren durchweg charakterstarken Figuren, und draußen in einem Zelt auf der Wiese sitzen etwa 100 Journalisten und warten darauf, dass etwas passiert, und wenn nichts passiert, dann muss trotzdem wieder eine Menge geschrieben werden - dann kann so eine Woche EM-Pause eine zermarternde Ewigkeit dauern.

Die Sportzeitung L'Équipe hat am Montag noch mal an die EM vor vier Jahren erinnert, damals hatten die Franzosen ihr drittes Gruppenspiel gegen Schweden verloren, und in der Umkleidekabine fragte der Trainer Laurent Blanc den Angreifer Hatem Ben Arfa, ob er eigentlich nichts Besseres zu tun habe, als rund um die Uhr mit seiner Familie zu telefonieren. Woraufhin Ben Arfa zurückgiftete, Blanc habe ihn ja unbedingt gegen Spieler auswechseln müssen, "die noch größere Nullen sind" - und schon war wieder eine Menge Feuer unter dem Dach, ehe das Turnier in die K.-o.- Phase ging.

Der Innenverteidiger Adil Rami sagte am Sonntagabend in Lille, ehe er sich in die siebentägige Einkehr abmeldete: "Eine Woche ohne zu spielen, das wird sehr lang werden, eigentlich haben wir wirklich Lust, die Spiele schnell zu absolvieren und schnell zum Ende des Turniers vorzustoßen. Aber wir wissen, dass wir in Etappen vorgehen müssen." Der Mittelfeldspieler Yohan Cabaye wusste zu berichten, "dass wir diese Woche jetzt nutzen werden, um die Automatismen weiter zu schärfen". Er meinte damit definitiv nicht den historischen Automatismus, dass die Franzosen es immer irgendwie hinkriegen, sich zu zerstreiten im Laufe so einer großen Meisterschaft.

"Jetzt beginnt ein neues Turnier", sagt der Trainer Deschamps

Immerhin nehmen Didier Deschamps und sein Kader ein paar Gewissheiten mit aus dem 0:0 gegen die Schweiz, mit dem sie am Sonntagabend in Lille die Vorrunde abschlossen. Sie sind Gruppenerster. "Das war sehr wichtig", sagte der Nationalcoach. Nicht zuletzt, weil das EM-Tableau so auf den Gastgeber zugeschnitten ist, dass er als Erster nun zunächst auf einen Gruppendritten trifft - und im Viertelfinale dann auf den Sieger zweier Gruppenzweiter. Eine weitere Gewissheit: Die Franzosen sind nur sehr schwer aus dem Spiel heraus zu überwinden - den bisher einzigen Gegentreffer mussten Les Bleus beim 2:1 zum Auftakt gegen Rumänien hinnehmen, er resultierte aus einem Strafstoß. Diese Stabilität ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Deschamps in der Vorbereitung ein fest eingeplanter Abwehrspieler nach dem anderen abhanden kam.

Und wenn Didier Deschamps die torlose, aber intensive Partie gegen die Schweiz noch einmal analysiert, wofür er jetzt eine Menge Zeit hat, dann wird ihm auch die enorme Offensiv-Wucht gefallen, die seine Truppe zu entfachen in der Lage ist. Angeführt von Kraft-Spielern wie Paul Pogba und Moussa Sissoko setzten die Franzosen den Ball in Lille gleich dreimal an die Latte.

Die größte Gewissheit ist allerdings, dass es mehr Ungewissheiten als Gewissheiten gibt. Nicht nur, weil es jetzt noch mehrere Tage dauert, ehe Deschamps überhaupt erfährt, auf welchen Gegner er sein Team einstellen soll für das Achtelfinale am kommenden Sonntag in Lyon. Sondern vor allem, weil die Sélection de France auch gegen die Schweiz eine riesige Wundertüte abgab: Edle Kostbarkeiten oder unbrauchbaren Kleinkram, nie weiß man, was man als nächstes bekommt. "Die große Unbekannte", schreibt Le Monde. Für L'Équipe steht fest, dass die Franzosen jene Elf sein werden, für die "alles schwierig wird", die aber auch dafür sorgen kann, "dass für ihre Gegner alles schwierig wird".

Daran, dass man immer noch nicht recht weiß, wozu der Gastgeber in der Lage ist, hat Deschamps seinen Anteil. In der Elf vom Sonntag blieben nur Torwart Lloris und die Viererkette Sagna-Rami-Koscielny-Evra auf ihren Posten, drum herum war einiges neu: Gignac, Sissoko und Cabaye sollten Spielpraxis bekommen, Coman agierte diesmal auf dem linken statt auf dem rechten Flügel. Sie alle überzeugten. Aber wie hoch ist der Preis? Für die Geschonten, etwa Kanté und Giroud, wird das letzte Spiel sogar elf Tage zurückliegen, am kommenden Sonntag in Lyon. Das nimmt der Trainer aber in Kauf. "Jetzt beginnt sowieso ein neues Turnier", sagt Deschamps. Und dass es mit Warten beginnt, muss kein Nachteil sein. Man muss nur "Erholung" dazu sagen, dann klingt so eine Woche im Wald gleich nicht mehr so bedrohlich.

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