Frankreich:Der nächste Retter

Lesezeit: 3 min

Die Tore von Angreifer Antoine Griezmann sind ein weiteres Mittel, durch das sich die Mannschaft des EM-Gastgebers aus Schwierigkeiten befreien kann.

Von Claudio Catuogno, Lyon

Der Präsident trägt einen schwarzen, eng geschnittenen Anzug mit Abzeichen am Revers, er steht auf dem frisch gemähten Rasen vor einem Schloss und macht ein staatsmännisch ernstes Gesicht. Der Präsident, das ist: "Président Payet".

Die Überhöhung des Fußballs hat jetzt auch im EM-Land Frankreich eine solche Dimension erreicht, dass man sie auf den ersten Blick gar nicht mehr mit dem Fußball in Verbindung bringt. Kein Schweiß, kein Ball, keine Männer in kurzen Hosen mit Sportgeräten. Das Gesellschaftsmagazin Society, das sich in seiner Juli-Ausgabe außerdem noch Hillary Clinton, dem Wert der Meditation im digitalen Zeitalter sowie osteuropäischen Fernfahrern widmet, hat den Nationalspieler Payet tatsächlich zum Staatsoberhaupt ausgerufen. "Ist er der neue Retter der Franzosen?"

Nun, die Festlegung ist zumindest ein bisschen voreilig.

Dimitri Payet, 29, von West Ham United, war Frankreichs Hauptfigur einer komplizierten Vorrunde. Er war die Entdeckung im offensiven Mittelfeld. Vor allem aber übertünchte er die Schwierigkeiten im französischen Team durch seine späten Treffer gegen Rumänien (2:1) und Albanien (2:0). Am Sonntag hat mit dem Achtelfinale gegen Irland dann auch für die Franzosen die K.o.-Runde begonnen, und es fällt auf, dass es manchmal nur ein Fußballspiel braucht, um einen neuen Retter hervorzubringen. Übrigens nicht nur in einem Land, das die Guillotine einst auch deshalb erfand, um seine Herrscher rasch und endgültig gegen neue austauschen zu können.

Das Verfahren hat sich zum Glück nicht gehalten, aber wenn man am Montag auf die Titelseiten der französischen Zeitungen blickte, war von Payet dort nichts mehr zu sehen. Der neue "Président" heißt jetzt Antoine Griezmann.

Dem Gastgeber fehlt es noch an der Balance zwischen den Mannschaftsteilen

Am Sonntagabend ist Griezmann gut gelaunt durch die Katakomben des Grand Stade von Lyon gelaufen. Der Stürmer von Atlético Madrid war bisher eher zu den Problemfällen im Team gezählt worden. Als er das letzte Mal eine Titelseite zierte, stand dort die Schlagzeile "Die Sorge Griezmann" ( L'Équipe). Ist er müde nach inzwischen mehr als 60 Saisonspielen in den Knochen? Ist er niedergeschlagen wegen des verlorenen Champions-League-Finales gegen Real Madrid? Oder ist er nicht der Richtige für das vom Nationaltrainer Didier Deschamps favorisierte 4-3-3-System, in dem Olivier Giroud vom FC Arsenal den Platz des Mittelstürmers einnimmt und Griezmann auf den rechten Flügel hinaus rücken muss? Das waren so die Fragen.

Zuletzt zählte Antoine Griezmann (oben) eher zu den Problemfällen der französischen Elf. Nicht mehr nach dem 2:1 gegen Irland. (Foto: Aurelien Meunier/Getty Images)

Und nun hat Antoine Griezmann also die Franzosen gerettet, oder wenigstens ihre Fußballer vor dem Ausscheiden. Die Möglichkeit eines Scheiterns gegen die gut organisierten Iren hatte schon in der zweiten Spielminute bedrohlich Gestalt angenommen: Paul Pogba hatte im eigenen Strafraum Shane Long umgerannt; Robbie Brady traf per Strafstoß zum 1:0 für die Iren (2.). Es war der zweitschnellste Treffer der EM-Geschichte. Aber in der zweiten Halbzeit drückte dann Griezmann den Ball zunächst nach einer Flanke von Bacary Sagna mit dem Kopf über die Linie (58.). Drei Minuten später bekam er den Ball schon wieder, diesmal von Giroud: Griezmann musste nur noch einschießen zum 2:1 (61.).

Griezmann entwickelte nicht den nötigen Zug zum Tor - bis er als zweiter Stürmer spielen durfte

Mutmaßungen, wonach er nun der amtlich beglaubigte Frankreich-Retter werden wolle, hat Antoine Griezmann allerdings zurückgewiesen. Es hat ihn bisher auch niemand im Anzug vor einem Schloss fotografiert. "Der Retter", sagte er in Lyon, "das ist die ganze Mannschaft."

Und selbst wenn sich das zunächst nach einer abgegriffenen Fußballer-Floskel anhörte: Es stimmte. Die Franzosen bringen sich zwar immer wieder selbst in Schwierigkeiten bei diesem Turnier, es fehlt noch an der Balance zwischen den Mannschaftsteilen, und beim zukünftigen Weltfußballer Paul Pogba (Quelle: Paul Pogba) wechseln Licht und Schatten ständig.

Aber Les Bleus finden auch zuverlässig Mittel und Wege, um sich aus den Schwierigkeiten wieder zu befreien. Das schließt den Trainer Deschamps ausdrücklich mit ein. Dem kann man vorwerfen, dass er ständig sein System ändert: Mal versucht er es mit Payet auf dem Flügel, dann in der Zentrale, dann wieder auf dem Flügel; mal schiebt er Pogba nach rechts, dann auf die Bank, dann nach links. Er wirkt wie ein Trainer auf der Suche. Aber man kann Deschamps auch zugutehalten, dass er flexibel genug ist, etwas auszuprobieren und sich im Zweifel zu korrigieren. Und das offenbar im konstruktiven Dialog mit seinen Spielern. In der Halbzeitpause des Irland-Spiels tat Deschamps genau das.

Nach seinen Toren gegen Irland gratuliert Dimitri Payet (l.), der Retter in der Vorrunde, überschwänglich. (Foto: Max Rossi/Reuters)

"Wir haben uns die nötigen Dinge in der Pause gesagt", berichtete der Mittelfeldspieler Blaise Matuidi nachher, "die zweite Halbzeit war dann unsere beste seit Beginn der EM." Die nötigen Dinge: Vor allem war das die Erkenntnis, dass Griezmann so weit auf dem Flügel nicht den nötigen Zug aufs Tor entwickelt. Also stellte Deschamps um, nahm den Sechser N'Golo Kanté aus dem Spiel, brachte stattdessen Kingsley Coman für die rechte Seite - und bestimmte Griezmann zum zweiten Stürmer. "Ich habe davon profitiert", sagte der später, "ich spiele das ganze Jahr in der Mitte, ich habe da meine Orientierungspunkte." Ob er trotzdem wieder zurückmuss, am Freitag im Viertelfinale im Stade de France? Deschamps hält sich das vorerst offen. "Entscheidend ist ja nicht das System", sagt er, "entscheidend sind Wille, Entschlossenheit und die Fähigkeit, sich wachzurütteln."

Die Franzosen werden in jedem Fall wieder etwas ändern müssen. Neben Kanté ist auch der Innenverteidiger Adil Rami gelbgesperrt. Samuel Umtiti, 22, von Olympique Lyon könnte ihn ersetzen. Sollte das gut gehen, wäre es die nächste Retter- Geschichte. Samuel Umtiti hat bisher kein einziges Länderspiel bestritten.

© SZ vom 28.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: