Formel 1:Wann ist ein Rennen noch ein Rennen?

Formel 1

Nur der Erste hat freie Sicht: Lewis Hamilton, l., in São Paulo.

(Foto: REUTERS)

Vier Unfälle, zwei Unterbrechungen, fünf Safety-Car-Phasen: Nach dem turbulenten Grand Prix in São Paulo diskutiert die Formel 1 über die eigenen Gefahren.

Von René Hofmann

Für Sebastian Vettel war es ganz einfach. "Wir brauchen bessere Reifen", forderte der viermalige Weltmeister, nachdem er beim turbulenten Großen Preis von Brasilien lediglich Fünfter geworden war. "So viel Regen" hatte Vettel bei der mehr als dreistündigen Fahrt auf dem Autódromo José Carlos Pace gar nicht gesehen. Sein Urteil: "Es war zwar ein bisschen Wasser auf der Strecke, aber unsere Reifen sind nicht für Regen gemacht."

Romain Grosjean/Haas, Marcus Ericsson/Sauber, Kimi Räikkönen/Ferrari und Felipe Massa/Williams: vier Totalschäden, zwei Unterbrechungen, fünf Safety-Car-Phasen - schon das nüchterne Protokoll dieses vorletzten Saisonlaufs lässt ahnen, wie sehr es auf der Berg-und-Tal-Bahn in São Paulo dieses Mal drunter und drüber ging. Als Sieger wurde nach 71 Runden Lewis Hamilton abgewunken. Der Brite passierte die Ziellinie 11,455 Sekunden vor seinem deutschen Mercedes-Kollegen Nico Rosberg. Dritter wurde mit einer Aufsehen erregenden Fahrt der 19 Jahre alte Max Verstappen im Red Bull.

Im Ziel erwarteten die Schnellsten zwei Fragen: Wie aufregend war der Nachmittag für sie verlaufen? Und: Hätte der Nachmittag wirklich so aufregend verlaufen müssen?

Nachdem Rennleiter Charlie Whiting den Grand Prix aus Sicherheitsgründen zum zweiten Mal gestoppt hatte, hatten die Zuschauer auf den Tribünen erbost gepfiffen - und auch Hamilton hatte sich am Funk gewundert: "Die Strecke ist doch fein. Es ist nicht einmal feucht. Ich weiß nicht, wieso wir anhalten." Valtteri Bottas hatte sich die Frage nicht nur einmal gestellt. Der Williams-Fahrer war der Meinung: "Wenn es nass ist, bedeutet das, dass es schwieriger wird, weil man weniger sieht. Aber das ist normal." Er habe sich jedoch das gesamte Rennen hindurch "komplett sicher" gefühlt, "deshalb verstehe ich nicht, wieso wir so oft angehalten haben".

Die teuersten Autos und die angeblich besten Fahrer der Welt stehen herum und warten unter Campingzelten auf besseres Wetter: Auf den ersten Blick sah es wirklich wie ein Witz aus. Gar so lustig ist es dann aber doch nicht, wenn es darum geht, in 1000 PS starken Cabrios mit frei stehenden Rädern im Regen den Schnellsten zu ermitteln. Seit der Franzose Jules Bianchi beim Großen Preis von Japan vor zwei Jahren trotz geschwenkter Warnflaggen von der Strecke kreiselte, unter einen Radlader schleuderte und - sieben Monate später - an den Folgen des Unfalls starb, haben sich die Referenzpunkte verschoben. Seitdem geht die Rennleitung im Zweifelsfall lieber auf Nummer sicher.

Der WM-Stand vor dem letzten Saisonrennen

"Ich bin auf der Jagd": Nach seinem Sieg beim Großen Preis von Brasilien formulierte Lewis Hamilton eine Kampfansage an seinen Mercedes-Kollegen Nico Rosberg. Bereits seit dem 17. Saisonrennen am 9. Oktober in Suzuka steht fest, dass nur noch der Deutsche und der Brite Titelchancen haben. Nach seinem Sieg in Japan war Rosberg Hamilton um 33 Punkte voraus. Seitdem hat Hamilton drei Rennen gewonnen (in Austin/Texas, in Mexiko-Stadt und nun in São Paulo) und so den Rückstand sukzessive verkürzt. Vor dem Saisonfinale am 27. November in Abu Dhabi beträgt er nun nur noch zwölf Punkte. Die Zähler werden nach folgendem Schlüssel vergeben: 1. Platz - 25 Punkte; 2. - 18; 3. - 15; 4. - 12; 5. - 10; 6. - 8; 7. - 6; 8. - 4; 9. - 2; 10. - 1 Punkt.

SZ

Die spanische Zeitung Sport prangerte "eine übertriebene Vorsicht" an, von den Protagonisten aber schloss sich dieser Kritik dauerhaft kaum einer an. Als sich das Adrenalin gelegt hatte, mehrten sich die besonnenen Stimmen. "Es war am Limit, aber letztlich haben sie es hinbekommen. Sie haben gute Entscheidungen getroffen", lobte Nico Rosberg die Rennleitung. Red-Bull-Routinier Daniel Ricciardo sah es genauso. "Ich bin froh, dass wir das Rennen zu Ende fahren konnten und dass trotz einiger Unfälle alle sicher waren", sagte der Australier. Und auch Mercedes-Teamchef Toto Wolff, der sich über die zweite Unterbrechung zunächst vor laufenden Kameras gewundert hatte ("Wir sind Unterhaltung, wir sind Sport. Und es sind die besten Fahrer"), räumte ein: "Insgesamt haben sie wohl die richtigen Entscheidungen getroffen."

Verstappen zeigt sein Talent

Das Stop-and-go stellte die Fahrer vor besondere Herausforderungen. Dreimal mussten sie die Konzentration aufbauen. Sieger Lewis Hamilton war am Ende froh, über die gesamte Zeit nicht "aus der Zone" gefallen zu sein, wie er es nannte. Was den Titelverteidiger zudem freute: dass er nun auch in São Paulo einmal gewonnen hat und auf insgesamt 52 Siege kommt. Mehr, nämlich 91, hat nur einer gesammelt: Michael Schumacher.

Auch die Perspektiven im Titelduell haben sich für Hamilton weiter aufgehellt. Zum dritten Mal nacheinander besiegte er seinen Titelrivalen Nico Rosberg. Der Deutsche hatte in der Nässe keine Chance gegen Hamilton, was er allerdings auch mit einem taktischen Kniff erklärte: Als er sah, dass der Sieg außer Reichweite war, habe er die Leistung an seinem Motor gedrosselt, um für den Endspurt am 27. November in Abu Dhabi Kraft zu sparen, gab Rosberg an. Im letzten Rennen des Jahres wird sich dann entscheiden, ob er zum ersten Mal gekrönt wird, oder ob Hamilton die WM-Krone zum vierten Mal erobert.

Der Brasilien-Grand-Prix war turbulent, ein reines Glücksspiel aber war er keineswegs. Aus den Geschehnissen ließen sich durchaus Schlüsse ziehen, die über den Tag hinaus Bestand haben dürften. Dass Max Verstappen wirklich ein außergewöhnliches Talent ist, zum Beispiel. Der Red-Bull-Chauffeur zeigte so viele waghalsige Überholmanöver, dass der Automobilweltverband alleine mit seinem Auftritt bei diesem einen Rennen seinen Jahresrückblick bestreiten kann. Bei einer Aktion presste Verstappen sich zum Äußersten entschlossen an einem seiner Lieblingskontrahenten vorbei: an Sebastian Vettel. Der Ferrari-Fahrer tat in dem Moment, was er aktuell fast dauernd tut: Er beschwerte sich. Die Rennkommissare aber erhörten die Klage nicht. Sie ließen Verstappen freie Fahrt.

Vettels Groll auf die Reifen aber könnte bald Konsequenzen haben. Für die Kraft der Autos ist das Profil der Regenpneus tatsächlich etwas flach geraten. In der kommenden Saison soll es besser werden.

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