Formel 1:3337 Meter Irrsinn pro Runde

Vettel und Hamilton

Antipoden auf der Rennstrecke: Sebastian Vettel (links) und Lewis Hamilton.

(Foto: Pavel Golovkin/dpa)

Von Philipp Schneider, Monte Carlo

Ganz nach oben, da muss man hin. Avenue de Monte-Carlo, Ecke Avenue Princesse Alice. An die Stelle, an der die Rennwagen mit 275 Stundenkilometern den Berg hochschießen, im sechsten Gang vorbei an dem kleinen Versace-Geschäft, wo heute die Rollläden runtergelassen sind, dann folgt eine gestreckte Linkskurve, die Fahrer sehen so gut wie nichts, sie müssen darauf vertrauen, dass der Weg frei ist, wenn sie einbiegen auf den Place du Casino. Avenue Monte-Carlo, Ecke Avenue Princesse Alice. Dort muss hin, wer Monaco begreifen will.

Hier mischt sich die Meeresluft mit dem Geruch von komplexem Parfüm. Von hier oben sehen selbst die feudalen Motorhomes aus wie Spielzeug. Wenn man runter blickt, von der steilen Klippe in den Hafen, dann sieht man kaum Blau, weil das Hafenbecken verdeckt wird von all den weißen Yachten, auf einer hat soeben ein Hubschrauber geparkt, man sieht das Wasser nicht, so voll ist es. Und gegenüber sind all die terrakottafarbenen Hochhäuser, die etwas lieblos an den Hang geklatscht wurden. Von hier oben wirkt Monte Carlo ein bisschen wie die Pirateninsel von Playmobil. Was man sieht, das ist die Wahlheimat von Lewis Hamilton.

Einmal rüber über den Port Hercule sitzt Sebastian Vettel auf einem Stuhl im Ferrari Motorhome. Ach, sagt Vettel. "Ich kann mit Monte Carlo nicht viel anfangen. Muss ich aber auch nicht." Für einen Augenblick sieht Vettel sehr nachdenklich aus. "Wenigstens ist die Aussicht nicht zu schlecht." Vettel blickt jetzt durchs Fenster in die Terrakottawelt. "Wobei der Hügel dahinten schöner wäre ohne Häuser. Aber das muss wohl so sein?" Natürlich muss es das. Die Hochhäuser auf dem Hügel sind ja der ganze Witz an Monaco. Viele wollen hier wohnen auf engstem Raum, die Bevölkerungsdichte ist höher als im Vatikan, die höchste der Welt. Die Leute stapeln sich, es gibt ja keine Einkommenssteuer. Vettels Ding ist das nicht. Er hat sich vor Jahren einen Bauernhof im Kanton Thurgau gekauft. Gelegen zwischen Ellighausen und Hugelshofen. Der Hof heißt "Neumüli".

Ein gutes Duell lebt von den krassen Gegensätzen der Antagonisten. Robin Hood und der Sheriff von Nottingham. Batman und der Joker. Hillary Clinton und Donald Trump. Je unterschiedlicher die Charaktere, desto aufreibender der Zweikampf. Und deshalb ist das jetzt so eine herrliche Geschichte in der Formel 1. Auf der einen Seite Hamilton, 32, dreimaliger Weltmeister. Mann von Welt. Lange Zeit liiert mit der Sängerin der Pussycat Dolls. Um den Hals hat er außerhalb seines Rennwagens manchmal so viel Klunker hängen, dass sich manche sorgen, sein Hals könnte Schaden nehmen. Auf der anderen Seite Vettel, 29, viermaliger Weltmeister. Mann vom Bauernhof. Zusammen mit seiner Schulfreundin. Und Fahrer eines Ferrari, den er auf den Namen "Gina" taufte.

Nach drei Jahren, in denen Mercedes so dominant war, dass kaum Spannung aufkommen konnte, ist in dieser Saison alles so erfrischend, als habe jemand ein Fenster geöffnet in der Formel 1, durch das nun eine Brise weht. Die ganze Rennserie profitiert davon, dass es endlich wieder einen Wettbewerb der Fahrer unterschiedlicher Teams gibt, zwischen dem Ferraristi Vettel und dem Mercedes-Lenker Hamilton. Noch immer stellt sich zwar die Frage, ob das zu beobachtende Kräftegleichgewicht ein trügerisches ist, ob Ferrari tatsächlich nicht nur aufgeschlossen hat zu Mercedes, sondern das Niveau auch halten kann bis zum Saisonende. In Vettels Auto ist nach dem fünften Rennen bereits der vierte Turbo im Einsatz. Ab dem fünften gibt es eine Strafversetzung in der Startaufstellung.

Mit 290 in einen dunklen Tunnel

Doch zweimal standen Hamilton und Vettel bislang jeweils ganz oben auf dem Siegertreppchen. Zuletzt, beim Rennen in Barcelona, zu dem vor allem die Stuttgarter einen beeindruckenden Bausatz an neuen Teilen geschleppt hatten, fuhr Hamilton an Vettel vorbei, als sei er ein Streckenposten. Als der Brite den Deutschen "auffraß", wie Vettel erzählte, als er "wie ein D-Zug" an ihm vorbeirollte, da sah es so aus, als habe die Scuderia dem Topspeed der Stuttgarter nicht viel entgegenzusetzen. Allerdings kam bei diesem Manöver einiges zusammen. Hamilton hatte die weichere Reifenmischung aufgezogen, er stach hervor aus Vettels Windschatten, er durfte in der DRS-Zone den Heckflügel abklappen. Alles kein Problem, findet Vettel. Er sei, sagt er nun in Monte Carlo, mit seinem Topspeed zufrieden. Es sei sogar so: "Wir hätten alle fünf Rennen gewinnen können."

Nun aber Monaco. Das speziellste Rennen der Saison, das berühmteste, das beeindruckendste sowieso: hohe Häuser, eine Spielbank von 1854, enge Gassen, dazu 19 Kurven und 3337 Meter Irrsinn pro Runde. Durch eine nach dem angrenzenden Hotel benannte Kehre geht es erst mit 50 Stundenkilometern, dann mit 290 durch einen dunklen Tunnel, die Pupillen der Fahrer werden also geweitet, dann blicken sie ins grelle Sonnenlicht; darauf folgt die sogenannte "Schwimmbad-Kurve", in der Alberto Ascari 1955 mit seinem Lancia ins Hafenbecken stürzte, aus dem ihn ein Matrose des Reeders Aristoteles Onassis wieder rausfischte.

Der letzte Ferrari-Sieg liegt 16 Jahre zurück

Auf jedem Meter Strecke wurde hier Geschichte geschrieben. Wer eine Weile an der Leitplanke verbringt, dem vibrieren Körper und Geist, als hätte er mit dem Rücken auf der Startbahn in Heathrow gelegen und die Ohren zeitgleich mit Metallica bespielt. Alles schallt und hallt. In Monaco entscheidet nicht der Speed, hier besteht der Fahrer, der den Wagen am schnellsten durch die engen Abschnitte lenkt, die keine Nummern tragen, sondern klingende Namen haben, als hätte sie Serge Gainsbourg in einem Chanson verwoben: Sainte Dévote. Beau Rivage. Mirabeau Haute. Mirabeau Bas. La Rascasse.

"Monte Carlo hat viel mit Confidence zu tun", sagt Vettel. "Du musst deinem Auto vertrauen. Wenn man sich wohlfühlt, dann bewegt man sich automatisch im richtigen Bereich." Im zweiten Training hat er seinem Ferrari so sehr vertraut, dass er sieben Zehntelsekunden schneller war als Hamilton, allerdings hatte sich Mercedes beim Feintuning verzockt.

Eng war es schon immer in Monte Carlo. Aber noch selten galt der Spruch des ehemaligen Weltmeisters Nelson Piquet, das Fahren in Monaco sei wie "Hubschrauberfliegen im Wohnzimmer", so sehr wie in diesem Jahr. Die Strecke ist nicht schmaler geworden, aber die Autos und Reifen sind wegen des neuen Reglements breiter. Überholen sei "unmöglich", sagt Max Verstappen, dessen Stärke das Überholen unter vermeintlich unmöglichen Umständen ist. "Man fährt einfach in der Mitte der Straße. Dann gibt es keinen Weg vorbei."

Nun stellt sich für Mercedes laut Aufsichtsratschef Niki Lauda noch ein weiteres Problem. Die Stuttgarter haben ihre Autos nicht nur wie alle anderen Teams breiter konstruiert. Auch sind Vorder- und Hinterreifen bei ihnen etwa 16 Zentimeter weiter voneinander entfernt als bei Ferrari. Im Moment, sagte Lauda, habe Ferrari Vorteile, "weil wir mit dem längsten Radstand durch die engen Kurven Probleme bekommen werden". Auch Hamilton glaubt, dass sich das Auto "schwieriger drehen" lässt. Sollte das stimmen, wäre das natürlich ziemlich lustig. Ein Rennwagen, der zu sperrig ist, um geschmeidig um die Kurve zu biegen, ist so überraschend wie ein Türsteher, der zu breit ist, um durch die von ihm bewachte Türe zu laufen.

Hamilton könnte seine 65. Pole-Position holen

Alles Unsinn, findet Motorsportchef Toto Wolff, "das ist für mich zu sehr vereinfacht". Das Auto sei als "bester Kompromiss wissenschaftlich entwickelt" worden, um auf allen Strecken konkurrenzfähig zu sein. Auch auf jenen, die im Vergleich zur Hafenrundfahrt in Monaco vor allem Hochgeschwindigkeitskurven besitzen. Und Hamilton, der nun in Monte Carlo die 65. Pole Position seiner Karriere holen könnte, womit er gleichziehen würde mit Ayrton Senna, erwartet in dieser Saison ohnehin einen "allround battle" mit Vettel, wie er sagt. Ein Duell, das "physisch, mental und technisch" entschieden wird.

Vettel mag eher die sanften Töne. Ob ihm klar sei, wurde er gefragt, dass der letzte Sieg eines Ferrari im Fürstentum 16 Jahre her sei? Oh, hat Vettel geantwortet. "2001? Na dann wird es aber Zeit!"

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