Formel 1:Versunken im Wackelpudding der Liebe

Canadian F1 Grand Prix

Sebastian Vettel: Spürt den Aufwind in Kanada

(Foto: AFP)
  • Sebastian Vettel feiert den Sieg in Kanada fast so euphorisch, als hätte er schon seinen fünften Titel gewonnen.
  • Offenbar hat der deutsche Herausforderer von Lewis Hamilton plötzlich ein ungeheuer starkes Gefühl, dass da wirklich etwas geht in der WM-Wertung.
  • "Ich musste auf den letzten Runden viel an Michael denken. Es ist so schade, dass er heute nicht dabei sein konnte", sagt Vettel über Michael Schumacher, der vor 14 Jahren in Kanda gewonnen hatte.

Von Elmar Brümmer, Montreal

Gefühlt dauert der Weg von Sebastian Vettel vom Parc fermé bis aufs Siegerpodium länger als die vorangegangenen 70 Runden beim Großen Preis von Kanada. Die Boxengasse ist eine einzige wogende rote Masse, als der Sieger des siebten WM-Laufs endlich mit zittrigen Händen das Lenkrad seines Rennwagens abgenommen, die umständlichen Sponsorenbanden umkurvt hat. Dann endlich bekommt freien Lauf, was sich monatelang aufgestaut hat. Der Formel-1-Pilot aus Heppenheim wirft sich wieder und wieder in die Menschenmenge, die ihn wie ein Wackelpudding umschließt.

Schließlich bekommt er eine Fahne mit dem Wappen von Ferrari in die Hand gedrückt, mit der er davonstürmt, ähnlich wie zuvor auf der Strecke. Auf dem Podest hat die Unruhe noch kein Ende, die in ihm steckende Energie drückt sich erst durch ein Wippen der Füße aus, dann ergreift die Bewegung den ganzen Körper. Im Bemühen, die Fassung zurückzugewinnen, legt er immer wieder den Kopf in den Nacken und blickt scheinbar ratsuchend in den Himmel. Welch Wunder, dass dieser am Sonntag strahlend blau und nicht auch noch rot ist.

"Die Menschen in Montréal mussten lange genug auf einen Ferrari-Sieg warten", sagt Vettel

Es ist Vettels dritter Sieg der Formel-1-Saison, der erste seit zwei Monaten, der 50. insgesamt in seiner Grand-Prix-Karriere. WM-Tabellenführer ist er jetzt auch wieder, mit einem Pünktchen Vorsprung auf den britischen Rivalen Lewis Hamilton. Aber die Freude ist so riesig, als habe er schon seinen fünften Titel gewonnen, es wäre dann der erste mit Ferrari. Möglich, dass die Weltmeisterschaft vor der Wende steht. Aber das allein kann nicht diese ungekannte Ausgelassenheit erklären. Offenbar hat der deutsche Herausforderer plötzlich ein ungeheuer starkes Gefühl, dass da wirklich etwas vorangeht. Vettel ist eins mit sich, mit dem Sieg und Ferrari. Grazie alla squadra. Auch wenn Topmodel Winnie Harlow aus Versehen das Rennen eine Runde zu früh mit der schwarz-weiß-karierten Flagge abwinkte: Vettels Darbietung war der bislang eindeutigste Triumph über den Rivalen Mercedes. Der Fauxpas der Rennleitung, die Harlow das Signal zum Winken gegeben hatte, irritierte Vettel nicht, auf dem Lenkraddisplay konnte er die richtige Rundenanzahl ablesen. Auf sein Gefühl vertrauend, gab er weiter Gas. Für Ferrari-Teamchef Maurizo Arrivabene war die Steigerung seines Fahrers ausschlaggebend für die Dominanz der Scuderia. Vettel befand sich in einem Flow, wie ihn Gegenspieler Lewis Hamilton für gewöhnlich bei Mercedes vorlebt. Doch der Brite lieferte mit dem fünften Platz sein schlechtestes Saisonresultat ab.

Von einem "Weckruf" spricht ein angesichts der durchgängig starken Form des Gegners sichtlich entsetzter Mercedes-Sportchef Toto Wolff. In einer ersten Reaktion bei seinem Heimatsender ORF hatte der Manager sogar noch von einem "Scheißresultat" gesprochen: "Wir fallen überall zurück. Auf dieser Strecke hätten wir Punkte maximieren müssen und nicht Schadensbegrenzung betreiben. Wir sind nach Montréal in dem Glauben gekommen, dass unser Auto stark sein würde. Jetzt reisen wir mit der Erkenntnis ab, dass Ferrari in allen Phasen das bessere Auto hatte. In der Qualifikation und im Rennen." Tatsächlich kontrollierte Ferrari den Grand Prix nach Belieben. "Wir hatten keine echte Chance auf den Sieg", konstatiert Vettels hilfloser Verfolger Valtteri Bottas.

"Das Wort perfekt ist hier und heute die richtige Beschreibung"

Das eigentlich Beunruhigende für das Mercedes-Werksteam ist die Summe der Pannen, zu der auch das kleine Zuverlässigkeitsproblem bei der Produktion der neuen Motorengeneration gehört. Mercedes war noch mit einem alten Motor unterwegs, die Konkurrenz von Ferrari und Red-Bull-Renault konnte mit Zusatzpower aufwarten. Aber das ist ja nicht alles. Bottas rettete mit dem letzten bisschen Sprit seinen zweiten Platz, Hamiltons Aggregat überhitzte früh, die Reifenwahl war nicht optimal. Das sind Alarmsignale. Jeder im Team, so Wolff, müsse nun überlegen, was er an Verbesserungen zu der Rückkehr auf die Siegerstraße beitragen könne. Hamilton, der schon froh war, überhaupt ins Ziel gekommen zu sein, hat für sich schon zwei Erkenntnisse gewonnen: "Ärmel hochkrempeln. Positiv denken."

In der letzten Runde wurde Vettel melancholisch. Er musste viel an Vorgänger Schumacher denken

Schon nach den durchwachsenen Rennen in den beiden sieglosen Monaten hatte Sebastian Vettel ungewöhnlich gelöst gewirkt, seiner Truppe mit dieser an den Tag gelegten Gelassenheit indirekt das Vertrauen ausgesprochen. In Montreal hat sich zum ersten Mal gezeigt, welche Kraft sich entwickeln kann, wenn sich der Chill-Faktor mit dem Odenwälder Ehrgeiz multipliziert. "Das Wort perfekt ist hier und heute die richtige Beschreibung. Dieser Ort bedeutet viel für Ferrari. So ein Rennen hinzulegen, ist viel wert. Die Menschen in Montreal mussten lange genug auf einen Ferrari-Sieg warten."

Die Erleichterung über das Erreichte brach bei den Interviews nach dem Rennen noch einmal aus ihm heraus. Tränen schossen ihm in die Augen, als er an den letzten Ferrari-Erfolg in Kanada erinnerte, 2004 von Montreal-Rekordsieger Michael Schumacher herausgefahren: "Ich musste auf den letzten Runden viel an Michael denken. Es ist so schade, dass er heute nicht dabei sein konnte. Für mich ist es unglaublich, in dieser Position zu sein, das gleiche Auto wie er zu fahren. Es war schwer, die Augen auf der Strecke zu halten."

Der bekennende Traditionalist Vettel erinnerte auch noch an Gilles Villeneuve, dessen erster Sieg im Ferrari vor 40 Jahren die Motorsportbegeisterung in Kanada erst heraufbeschworen hatte. Mit Botschaften, gibt der Hesse gern zu, sei er für gewöhnlich schlecht. Aber dann gelingt ihm auf Nachfrage doch noch eine: "Ferrari lebt noch, ich bin unglaublich stolz, Teil dieser Geschichte zu sein." Für das nächste Rennen kündigt Mercedes an, endlich den aufgemotzten Motor zu bringen. Er wird sich mit dem stärksten Ferrari-Team seit Jahren messen müssen.

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