Football:Matrix-Algebra statt Touchdowns

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Dieses Leben gegen ein anderes getauscht: John Urschel war Footballprofi bei den Baltimore Ravens. Nun widmet er sich ganz der Mathematik. (Foto: Mitch Stringer/USA Today Sports)

Der kanadische Football-Profi John Urschel beendet mit 26 seine Karriere, um als Mathematiker zu arbeiten - und um seine Gesundheit nicht zu gefährden.

Von Max Länge, Baltimore/München

John Urschel wird sich wie so oft schon in seinem Leben auf die Zahlen verlassen haben, als er sich für den Rücktritt entschied. Er wird gerechnet und festgestellt haben, dass es sich für ihn nicht mehr lohnt, American Football zu spielen, den Sport, den er so sehr liebt. Urschel, 26, führte drei Jahre lang ein Doppelleben als Profi bei den Baltimore Ravens in der US-Footballliga NFL und als Wissenschaftler am renommierten Massachusetts Institute of Technology, kurz MIT. Wenn der Kanadier nicht als Doktorand Vorlesungen besuchte und sich mit Spektraldiagrammen, Matrixalgebra und Finanzinformatik beschäftigte, rammte er auf dem Spielfeld Gegenspieler - bis er vor kurzem seine Football-Karriere beendete.

Zwei Tage zuvor hatte die Neuropathologin Dr. Ann McKee eine Hirnstudie publiziert. In 110 von 111 untersuchten Gehirnen ehemaliger NFL-Profis wies sie chronisch-traumatische Enzephalopathie (CTE) nach, die degenerative Krankheit, von der man glaubt, dass sie durch wiederholte Kopfstöße ausgelöst wird. Die Symptome sind vielfältig und reichen von Gedächtnisverlust über Depressionen bis hin zu Demenz.

"Warum gehe ich dieses Risiko ein?"

McKees Studie löste eine Welle an extremen Reaktionen aus. Befürworter der Studie bezeichneten sie als Anfang vom Ende einer brutalen Sportart. Endlich sei der Beweis dafür gefunden, dass Football die Spieler kaputt mache - und zwar alle. Widersacher merkten an, dass lediglich Gehirne von Spielern untersucht worden waren, die sowieso bereits Symptome von CTE gezeigt hatten. Das Ergebnis sei verfälscht und nicht ernst zu nehmen.

Dann trat Urschel zurück, der Mann, der das College mit Bestnoten abschloss, der bereits sechs Veröffentlichungen im Bereich der Mathematik vorweisen kann, der vom Wirtschaftsmagazin Forbes auf die Liste der 30 talentiertesten Pioniere unter 30 Jahren gesetzt wurde. Natürlich stürzten sich viele Medien auf den naheliegenden Zusammenhang. Der überdurchschnittlich intelligente Sportler hört auf, weil er um seine mentale Gesundheit fürchtet. Und natürlich äußerte sich Urschel bei Twitter zur Nachricht: "Es war keine einfache Entscheidung." Und: Dahinter stecke keine große Geschichte.

Studie zu CTE
:Football ist gefährlich!

Eine Studie weist auf den Zusammenhang zwischen der Sportart und Hirnverletzungen hin - auf schockierende Weise. Die NFL-Verantwortlichen sollten sich dem Problem endlich konsequent stellen.

Kommentar von Jürgen Schmieder

Doch Urschel macht sich nicht erst seit Bekanntwerden der neuen Studie über seine Gesundheit Gedanken. Im März 2015 schrieb er bei The Players Tribune, einer Plattform, die als Sprachrohr von Sportlern gilt: "Die Wahrheit ist ganz einfach. Es kann nicht gesund sein, in der NFL eine Position zu spielen, auf der man Zusammenstößen aller Art ausgesetzt ist. Warum also gehe ich dieses Risiko ein?" Er hatte da gerade eine Saison als Profi hinter sich.

Die Antwort: Er liebe das Spiel. Er liebe es, als Offensive Guard Spieler zu rammen. Diesen Rausch, seinen Gegenüber zu dominieren, finde er nirgendwo anders. "Nicht spielen ist einfach keine Option im Augenblick", schrieb er dann.

Es fällt nicht immer leicht, Worten wie diesen Glauben zu schenken, zumal deren Verfasser oft Jahresgehälter im siebenstelligen Bereich einstreichen. Urschel verdiente in drei Jahren insgesamt rund 1,6 Millionen Dollar, vergleichsweise wenig. Sein Leben ist weder darauf ausgerichtet, Millionen auf der Bank anzuhäufen, noch sie für einen aufwendigen Lebensstil zu verprassen. Er fährt einen gebrauchten Nissan Versa und lebt von weniger als 25 000 Dollar im Jahr. "Die Dinge, die ich liebe", schreibt Urschel, "Mathe, Forschung und Schach spielen, sind sehr preiswert zu haben." American Football auch?

Im August 2015 bezahlte Urschel seine Liebe zum Sport mit einer Gehirnerschütterung. Er kollidierte mit einem anderen Spieler - Helm gegen Helm - und wurde bewusstlos. Es dauerte drei Wochen, bis er wieder spielen konnte. Es dauerte länger, bis er wieder über Algebra, Diagramme und Informatik nachdenken konnte. "Ich glaube, die Verletzung schränkte meine mathematischen Fähigkeiten ein", sagte er anschließend in einer Fernsehsendung.

Der mathematische Beweis ist erbracht: Football ist ungesund

Die einfache Rechnung, die er Ende Juli machte, hätte er wohl auch mit einer Gehirnerschütterung hinbekommen. Selbst wenn in der Studie von Dr. McKee nur 110 NFL-Spieler tatsächlich Hirnschäden davongetragen haben sollten und alle anderen 1200 im Untersuchungszeitraum gestorbenen Footballer nicht, sind das immer noch fast neun Prozent - und damit deutlich mehr als in der Allgemeinbevölkerung. Man kann es als mathematischen Beweis dafür bezeichnen, dass CTE und Kollisionen im American Football in einem direkten Zusammenhang stehen.

Es war nicht die spektakulärste Gleichung, die Urschel in seiner Karriere aufgestellt hat. Doch das Ergebnis - der Rücktritt - sorgte für noch größere Resonanz als eine Mathematik-Veröffentlichung. Und führte eine Serie von Rücktritten fort. Chris Borland, Linebacker bei den San Francisco 49ers, verließ die Liga 2015 nach nur einer Saison mit der Begründung, langfristige Schäden zu befürchten. A. J. Tarpley von den Buffalo Bills, ebenfalls Linebacker, beendete seine Karriere 2016, nachdem er mehrere Gehirnerschütterungen erlitten hatte. Und nur wenige Tage vor Urschel wurde Michael Oher, durch den Hollywood-Film "The Blind Side" bekannter Verteidiger, bei den Carolina Panthers entlassen, weil er einen Medizincheck nicht bestanden hatte. "Das Gehirn ist eine beängstigende Sache"; schrieb er daraufhin bei Twitter, "man muss gut darauf aufpassen".

Nach zwölf Jahren auf dem Spielfeld geht die Rechnung mit der Liebe zum American Football für John Urschel nicht mehr auf. Er möchte sich nun in Vollzeit seiner Promotion widmen und Kurse besuchen, an denen er während der Football-Saison nicht teilnehmen konnte. Und dann wird er sich vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben nicht auf Zahlen verlassen dürfen. Urschel wird Vater. Dafür gibt es bislang keine mathematische Formel.

© SZ vom 13.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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