Football:Ablenkung mit weichen Bällen

Die NFL diskutiert weiter die Affäre um Quarterback Tom Brady von den New England Patriots. Dabei hat der Football in den USA weitaus bedeutendere Probleme.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es wird mal wieder debattiert im amerikanischen Sport - völlig zurecht. Denn dieses Problem beschäftigt die Football-Profiliga NFL nun schon seit Monaten. Und die neuen Details sorgen für Aufregung: Die Gerichtszeichnerin Jane Rosenberg hat aus dem formschönen Gesicht des Spielmachers Tom Brady eine Fratze gefertigt, das Bild verbreitete sich rasend im Internet. Eine Fiesheit, gewiss, doch gewiss geht es bei dieser Anhörung nicht um Bradys Attraktivität (die natürlich außer Frage steht). Sondern darum, ob Brady in der vergangenen Saison betrogen und anschließend Ermittlungen der National Football League (NFL) behindert hat. Ja, es geht noch immer um die selbe Sache: Um die Footbälle der New England Patriots, des Meisters, in die im Halbfinale zu wenig Luft gepumpt worden war. Offenbar mit Wissen von Tom Brady, dem Quarterback. Damit sich die Bälle leichter transportieren lassen.

Darüber diskutieren die Menschen in den USA. Und darüber, ob Brady tatsächlich für die ersten vier Spiele der neuen Saison, die am 10. September eröffnet wird, suspendiert werden soll. Oder ob nicht ein Vergleich und eine Sperre von zwei Spielen eher gerechtfertigt wäre.

Die Menschen diskutieren darüber, weil sie darüber diskutieren sollen. Weil die Football-Debatte in diese Richtung gelenkt wird. Natürlich ist der Fall grotesk, er wirft kein gutes Licht auf die NFL. Doch die akzeptiert lieber ein bisschen schlechtes Licht als einen strahlenden Scheinwerfer auf den wahren Skandal in dieser Liga, der die Menschen eigentlich mehr aufregen sollte als die weichen Bälle.

Die Tochter des toten Junior Seau darf keine Rede halten

Was nämlich noch passiert ist in den vergangenen Wochen: Junior Seau ist in die Hall of Fame aufgenommen worden, die Ruhmeshalle für verdiente Akteure. Seine Tochter Sydney durfte jedoch keine Rede für ihren verstorbenen Vater halten - offiziell wegen des Reglements, nach dem nur noch lebende Geehrte auf der Bühne sprechen dürfen. "Wir wollen die Regeln einhalten", begründete Hall-of-Fame-Präsident David Baker: "Wir wollen Verständnis und Mitgefühl zeigen. Es hat nicht mit irgendwelchen anderen Umständen zu tun." Immerhin gestand er Sydney Seau ein kurzes Interview hinter der Bühne zu, das auf einer Leinwand gezeigt wurde.

NFL: Pro Football Hall of Fame-Enshrinement

Sydney Seau, die Tochter des verstorbenen Footballers Junior Seau, bei der Aufnahme ihres Vaters in die Hall of Fame der NFL.

(Foto: Andrew Weber/USA Today Sports)

Diese "anderen Umstände", von denen David Baker spricht, stellen sich in etwa so dar: Junior Seau hat sich im Mai 2012 das Leben genommen. Nach seinem Tod wurde festgestellt, dass er an chronisch traumatischer Enzephalopathie (CTE) gelitten hatte, eine Gehirnkrankheit, die auf wiederholte Zusammenstöße zurückzuführen ist - also genau das, was Footballspielern bei der Ausübung ihres Berufes passiert. Seaus Familie verklagte die Liga NFL, woraus sich eine Sammelklage von 5000 ehemaligen Profis entwickelte. Es gab einen Vergleich, durch den die Liga 675 Millionen Dollar an ehemalige Akteure mit Gehirnerkrankung bezahlen muss. Die Seaus jedoch nahmen dieses Angebot nicht an und verklagten die NFL weiter.

"Er leidet an Depressionen"

Junior Seau ist nicht der einzige ehemalige Footballprofi, der sein Leben vorzeitig beendet hat. Auch Dave Duerson etwa, Andre Waters, Jovan Belcher und Terry Long wählten den Freitod, sie alle hatten zuvor über Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwächen und Depressionen geklagt, die klassischen CTE-Symptome. Am vergangenen Mittwoch versuchte der ehemalige Spielmacher Erik Kramer, sich in einem Hotelzimmer in der Nähe von Los Angeles zu erschießen. Kramer, 50, überlebte und wird derzeit in einem Krankenhaus behandelt, sein Zustand gilt nach Polizeiinformation als stabil.

"Er ist ein wunderbarer Mensch, aber er leidet an Depressionen, seit er für die Chicago Bears gespielt hat", sagt seine ehemalige Ehefrau Marshawn Kramer: "Ich schwöre, dass er nicht mehr der Mann ist, den ich geheiratet habe. Er leidet an immensen Schmerzen, die ich auf die Gehirntraumata zurückführe, die er während seiner Zeit als Footballspieler erlitten hat." Der nächste Fall also, über den man sprechen sollte. Zumal sich die Beschreibungen der jeweiligen Angehörigen ähneln.

Video

Die komplette Rede von Sydney Seau in der New York Times gibt es hier.

In den vergangenen Jahren hat die NFL dafür gesorgt, dass der Sport weniger gefährlich geworden ist - von den Profis bis runter zu den beliebten Jugendligen. Sie hat sich allerdings auch durch den millionenschweren Vergleich exkulpiert. Der beinhaltet nämlich, dass sich die NFL nicht entschuldigen muss und auch keinen Zusammenhang zwischen Football und schweren Gehirnerkrankungen anerkennen muss - obwohl sie nachweislich wusste, dass bei etwa 30 Prozent der ehemaligen Spieler nach dem Karriereende Gehirnschäden diagnostiziert werden. Nicht wenige interpretieren diesen Vergleich deshalb als Freikaufen von Schuld.

Wunderbare Worte über den Vater

Die NFL ist ein unabhängiger Zusammenschluss der 32 Vereine. Sie reguliert sich selbst und muss eigentlich nur fürchten, dass die immensen Einnahmen (etwa elf Milliarden Dollar in der vergangenen Saison) zurückgehen, weil die Menschen aufgrund des Imageverlustes keine Lust mehr haben, dem Spektakel zuzusehen. Doch danach sieht es nicht aus. Die Stadien sind gefüllt, die TV-Quoten sind blendend - schon vor fünf Jahren gab Ligachef Roger Goodell das Ziel aus, die Einnahmen bis 2027 auf 25 Milliarden Dollar zu erhöhen. Experten vermuten, dass diese Summe erreicht werden dürfte.

Warum auch nicht? Die Liga sorgt durch geschicktes Marketing dafür, dass sich die Fans lieber über nicht aufgepumpte Footbälle oder unvorteilhafte Zeichnungen von Tom Brady unterhalten als über die Probleme ehemaliger Spieler.

Sydney Seau hielt ihre Rede dennoch, in einem Hotelzimmer vor einer Videokamera. Sie sagte wunderbare Worte über ihren Vater, sie klagte niemanden an und sprach auch nicht über seine Gehirnverletzung. Es wäre schön gewesen, wenn nicht die "New York Times" die Internet-Plattform für Sydney Seaus Rede zur Verfügung gestellt hätte, sondern die Hall of Fame.

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