Folgen der Bayern-Niederlage:Abschied von einer großen Illusion

Das Scheitern im Champions-League-Endspiel wird dem FC Bayern München noch lange nachhängen. Drei zweite Plätze entsprechen nicht dem Anspruch des Klubs. In der Nacht der Niederlage äußert Präsident Uli Hoeneß sein Misstrauen an der aktuellen Spielergeneration. Und drückt seine Sehnsucht nach grimmigen Wadlbeißern aus.

Andreas Burkert

Kleinste Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Manchmal wischt er sie beiläufig fort mit dem Zeigefinger, es bilden sich aber einfach neue. Die Luft ist schlecht im geschmückten Postpalast an der Hackerbrücke, doch daran liegt es nicht, dass Uli Hoeneß, 60, mit glasigem Blick vor einem steht, um Contenance ringend, aber doch unverkennbar benommen und aufs Tiefste getroffen von den Ereignissen des Abends. "Ein Drama ist das", sagt er zwischendurch und schüttelt den Kopf, "nicht zu fassen."

Nein, zu fassen werden sie diese denkwürdige Nacht wohl nie mehr bekommen. Nicht mehr in diesem Leben.

Es ist keine Feier, zu der sich der FC Bayern sehr spät zusammengefunden hat. Sondern ein Pflichttermin, ein meditatives Beisammensein bestenfalls, um gemeinsam zu trauern und Abschied zu nehmen von "einer großen Illusion", wie Trainer Jupp Heynckes nach dem Abpfiff den Gewinn der Champions League im eigenen Stadion nannte. Auf dem kleinen Podesttisch, vor dem Hoeneß nun steht, hätte der Pokal thronen sollen; jetzt lehnt dort die Präsidentengattin, manchmal dreht sie sich sorgenvoll um zu ihm. Haltung bewahrt ihr Uli. Aber es geht ihm unendlich schlecht.

Er muss sogar etwas einräumen, das ihm wie eine zusätzliche Demütigung vorkommen muss: Dreimal Zweiter wie 2002 Bayer 04, spricht er, "wir haben ja immer über Leverkusen gelächelt - jetzt sind wir in einer ähnlichen Situation".

Vor dieser Erkenntnis haben sich die Münchner gefürchtet, vor den Minuten, in denen nicht sie als Letzte die Haupttribüne ihrer Arena erklimmen, um sich krönen zu lassen zu Königen von Europa. Sondern die Abordnung aus Chelsea. Es hatte etwas Bizarres, als die Bayern, behängt mit Trostpreisen am Dekorband, wieder unten auf dem Rasen ankamen und das Ritual des Siegers verfolgten. Sie waren dort Katastrophentouristen im eigenen Wohnzimmer. Uli Hoeneß sagt: "Da konnte ich nur kurz hinsehen."

Ein episches Drama hat den FC Bayern am Samstag um 23.29 Uhr erschüttert. Es endete, als Didier Drogba Chelseas zynischen Triumph über die Kraft- und Qualitätsverhältnisse dieses Endspiels besiegelte. Die Münchner hatten ihre Sehnsüchte nach dem historischen Titel sowie die tonnenschweren Erwartungen auf bewundernswerte Weise in eine große Finalleistung transferiert. Sie kontrollierten die aufgeladene Partie, sie schossen 35 Mal aufs Tor, das hat es in einem Finale noch nie gegeben. Sie erzwangen 20 Ecken, Chelsea nur eine einzige. Doch sie war es, die den Bayern erstmals das Herz beschädigte, denn dem Eckball entsprang Drogbas Kopfball zum 1:1, zwei Minuten vor Ablauf der 90 Minuten.

"Ich hab da heute keinen Jeremies gesehen"

Aber es folgten ja noch viele weitere Herzensbrecher: Robbens vergebener Strafstoß in der Verlängerung. Olics Großchance kurz darauf, der Fehlversuch des Kroaten im Elfmeterschießen, der den Vorteil im Roulettespiel kostete. Und dann eben Schweinsteigers Elfer, seine letzte Ballberührung: Pfosten. So viele Matchbälle, sagt Hoeneß, haben die Bayern noch nie vergeben.

Nachts um zwei tritt Karl-Heinz Rummenigge ans Mikrofon. Das sei einer "dieser Abende", hebt er an, "an denen man besser daheimgeblieben wäre". Ähnlich gelitten haben die Bayern nur 1999, als sie in den Schlussminuten das gewonnen geglaubte Finale gegen Manchester United noch 1:2 verloren, nach zwei Eckballtoren. Rummenigge erinnert daran und sagt: "Das heute ist irgendwie noch bitterer, noch brutaler und eigentlich auch überflüssiger. Das tut unheimlich weh."

Die Vorstellungskraft, wie es um diesen stolzen Verein bestellt sein wird, wie er sich erheben könnte nach der zweiten Spielzeit nacheinander ohne Titel und dem dritten zweiten Platz in dieser Saison, sie bringt beim Carpaccio vom Lachs und Filet mit Flusskrebsen niemand auf. Die Spieler plaudern ein wenig unter sich, auf der Bühne vermeidet die Band jegliches Tempo. Philipp Lahm langt sich ein paar Mal an den Kopf, die Wucht dieses Albtraums ist zu heftig. Robben starrt an Tisch 27 auf den Teller.

Sportdirektor Christian Nerlinger sagt, diese Niederlage werde "uns noch lange verfolgen". Heynckes erklärt, man habe jetzt "natürlich keine gute Saison" hinter sich. Er rechnet ab Montag mit einem Sturm der Kritik. Aber den Freund Heynckes werden sie kaum fortschicken, er bekommt sein letztes Vertragsjahr. Doch was soll das nun für ein Jahr werden nach diesem Triple der Tristesse, und angesichts einer EM, zu der die Bayern in Teamstärke reisen? Nach solchen Terminen haben sie doch traditionell Probleme, der Konkurrenz nachzueilen.

Hoeneß zieht die Schultern hoch, "ich habe noch keine Orientierung, ich muss das jetzt erst mal ein, zwei Tage sacken lassen", sagt er. Danach werde man sich zusammensetzen und analysieren. Es dauert dann aber nicht mehr lange, bis er natürlich doch eine erste Bewertung liefert: Kerle haben ihm gefehlt. Dass zum Beispiel Timoschtschuk keinen Elfer schießen wollte, versteht er nicht, überhaupt habe es "ja Probleme gegeben, fünf Schützen zu finden". Generell müsse man sich fragen, "ob das die Spieler sind, die das erzwingen, ob wir genug davon haben . . . Ich hab da heute keinen Jeremies gesehen, der schon beim Einlaufen die Gegner in die Waden beißt". Der Wadlbeißer Jens Jeremies hat 2001, auf dem Weg zum bislang letzten Münchner Champions-League-Triumph, sein Knie und damit seine Karriere geopfert.

Wen genau Hoeneß meinte, als er die rechte Kampfeshaltung einiger Spieler in Frage stellte, ist nicht ganz klar. Denn daran hat es kaum gelegen, wie es sowieso wohl nur an etwas mehr Präzision beim Abschluss fehlte; Mario Gomez könnte deshalb die Analyse betreffen, der erfolgreiche Torjäger war im Finale neben dem ansonsten vorzüglich spielenden Fehlschützen Robben und dem im Rampenlicht mal wieder hyperventilierenden Franck Ribéry am ehesten das Sinnbild der verpassten Chance, Geschichte zu schreiben. Es würde nicht wundern, verstärkten die Bayern als Lehre ihres Scheiterns ab sofort dramatisch ihre Bemühungen um jemanden wie den Dortmunder Mittelstürmer Robert Lewandowski oder den früheren Liga-Schützenkönig Edin Dzeko (Manchester City). "Ich habe keine Lust, immer Zweiter zu werden", sagt Hoeneß, er klingt nun bereits trotzig: "Das ist kein Zustand, den ich akzeptieren kann."

Ob er der aktuellen Mannschaft eine Reaktion zutraue wie den Verlierern von 1999, die zwei Jahre später ihren Frieden schlossen, wurde Hoeneß noch gefragt. Sein Schweigen dokumentierte gewisse Vorbehalte gegen die Generation Lahm/Schweinsteiger, die noch auf einen großen Titel wartet. An den Namensgebern des Jahrgangs kann Hoeneß nach den Finalleistungen nicht wirklich zweifeln, gerade Philipp Lahm bot gegen Chelsea eine faszinierende Partie. Der Kapitän richtete auch als Einziger den Blick nach vorn, als er betonte, ein paar Jahre könne dieser recht junge Kader im Kern noch zusammenspielen: "Und jetzt sind wir noch hungriger."

Lahm hat früh morgens als Letzter den Postpalast verlassen, fünf Uhr war es da schon, und der Himmel über München hielt eine letzte Gemeinheit bereit: ideales Korsowetter.

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