Flüchtlingsteam:Eine Mannschaft, wie es sie noch nie gab

Rio Olympics - Refugees

Willkommen in Rio: Mitglieder des ersten olympischen Flüchtlingsteams vor der Cristo-Redetor-Statue, dem Wahrzeichen Rios.

(Foto: Kai Pfaffenbach/Reuters)

Zehn Sportler, zehn bewegte Geschichten: Das olympische Flüchtlingsteam erhält in Rio viel Applaus. Mittendrin ist eine 18-Jährige aus Berlin.

Von René Hofmann, Rio de Janeiro

Die Kreditkarten-Firma Visa ist einer der größeren Sponsoren des Internationalen Olympischen Komitees. Pünktlich zum Start der Sommerspiele in Rio hat sie einen Werbespot aufgelegt, der unter anderem über die sozialen Medien rege vertrieben wird. Yusra Mardini spielt in dem Filmchen die Hauptrolle. Die 18-Jährige spielt sich selbst. Zu sehen ist, wie sie in einem Schwimmbad ins Wasser springt und loskrault. Blende. Mardini schwimmt wieder, aber dieses Mal zieht sie ein Boot, auf dem Flüchtlinge kauern.

Die Geschichte von Yusra Mardini ist schon öfter erzählt worden. Mit ihrer Familie floh sie vor dem Bürgerkrieg aus Syrien. Damaskus, Beirut, Istanbul, Izmir. Von dort sollte es mit einem Schlauchboot weitergehen, über die Ägäis, zur griechischen Insel Lesbos. Als der Außenbordmotor versagte, drohte das überfüllte Boot zu sinken. In dem Moment sprangen Mardini und ihre Schwester, beide geübte Schwimmerinnen, ins Meer und bugsierten das Boot mit seinen fast 20 Insassen ans rettende Ufer. Über Wien und München kam die Familie schließlich nach Berlin.

Das Wichtigste zu Olympia 2016 in Rio

Jetzt ist Mardini in Rio. Nicht als Teil des Teams, das Deutschland geschickt hat. Sie tritt für eine Mannschaft an, wie es sie noch nie gab. Für das Team "Refugee Olympic Athletes". Es besteht aus zehn Sportlern. Rose Lokonyen, Anjelina Lohalith, James Chiengjiek, Yiech Biel und Paulo Lokor sind aus dem Südsudan nach Kenia geflohen; sie treten in der Leichtathletik an. Der Äthiopier Yonas Kinde, der nun in Luxemburg lebt, wird sich im Marathon versuchen. Yolande Mabika und Popole Misenga stammen aus dem Kongo, leben jetzt beide in Brasilien - und wagen sich beide auf die Judo-Matte. Und dann gibt es noch Ramis Anis, der wie Mardini aus Syrien stammt und schwimmt, und der in Belgien ein neues Leben sucht.

Mardini, die Klassensprecherin

Zehn Sportler, zehn wirklich außergewöhnliche Geschichten. Und die sind auch der Grund, warum sie eingeladen worden sind. Über die Normen, die es sonst für eine Zulassung zu seinen Spielen fordert, hat das Internationale Olympische Komitee beim Refugee Olympic Team eher großzügig hinweggesehen. Die Geste zählt. Die Geste wurde gesucht.

Yusra Mardini ist zwar nicht die Chefin des Teams. Chef de Mission, wie das in der IOC-Welt heißt, ist die einstige kenianische Langstreckenläuferin Tegla Loroupe Chepkite. Aber Mardini ist so etwas wie die Klassensprecherin der Mannschaft. Klarer Blick, klares Englisch, am Ende jeder Antwort ein äußerst höfliches "thank you": Kein Wunder, dass Yusra Mardini in diesen Tagen im Olympiapark sehr gefragt ist. Und jeder, der sie erlebt, kommt kaum umhin, ein gerüttelt Maß an Bewunderung dafür zu empfinden, wie sie sich schlägt, als Teenager im Ansturm eines wirklich weltweiten Interesses

Der Applaus für das Team hilft Bach

"Es ist unglaublich, wenn man 60 Millionen Flüchtlinge repräsentieren kann", sagte die 18-Jährige in der IOC-Vollversammlung. "Ich will allen zeigen, dass man es trotz Krieg und Elend schaffen kann, wenn man an sich glaubt", sagte sie dieser Tage bei einer gut besuchten Fragerunde mit der Weltpresse. "Ich denke, Visa sendet eine Botschaft: Wir unterstützen Flüchtlinge, wir unterstützen Menschen", sagt sie in dem Behind-the-Scenes-Filmchen, das es über den Dreh der Werbeaufnahmen gibt.

Krieg, Frieden, Sport, Kommerz: Die Geschichte hat inzwischen viele Ebenen. Beim Einmarsch der Athleten bei der Eröffnungsfeier war der Applaus für das Flüchtlingsteam gewaltig. Aber es gibt nicht wenige, die es dem deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach zutrauen, dass er die zehn Athleten mit ihren bewegten Geschichten auch benutzt. Mit dem Flüchtlings-Thema lässt sich prima Sympathie heischen und vielleicht sogar mehr noch; vielleicht sogar der Friedensnobelpreis. In jedem Fall half der viele Applaus für Mardini und ihre Mitstreiter (sie kamen fast am Ende der Nationen-Parade) davon abzulenken, wie wenig Bach bei seiner anschließenden Ansprache zum Thema Staatsdoping in Russland einfiel: nämlich fast gar nichts.

Ein Mädchen muss fliehen, rettet Leben und schafft es auf die größte Bühne des Sports, dorthin, wohin es immer noch viele junge Menschen zieht. Die Story ist so eingängig, dass sie jedes Kind versteht. Kein Wunder, dass selbst die Sesamstraße das Thema aufgriff. "Es gibt eine superbesondere Mannschaft in Rio. Sie ist voller Athleten aus unterschiedlichen Ländern, die ihre Heimat verlassen mussten: das Flüchtlingsteam!", so erklärt es die Plüschfigur Grobi unter anderem den fast zwei Millionen Twitter-Followern der Kinderserie. "Sie waren so traurig, aber jetzt bekommen sie die Chance, das zu tun, was sie lieben. Los, feuern wir sie an: Team Refugee, Team Refugee, Team Refugee!!!"

Das Projekt verfängt. Das Kalkül dahinter lässt sich kritisieren, die Protagonisten aber sind sakrosankt. Sie erleben tatsächlich etwas, was sie so noch nie erlebt haben und auf anderem Weg wohl nie erlebt hätten. Sie nutzen eine Chance. Auch Hollywood hat schon angefragt bei Yusra Mardini. Und "nein", hat sie nicht gesagt. Sie hat gesagt: "Erst kommt jetzt Rio."

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