Fechten:Mit Übung in den Tunnel

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Britta Heidemann, 32. (Foto: Bernd Thissen/dpa)

Britta Heidemann ist eine Medaillen-Garantin. Noch aber ist fraglich, ob sie sich mit den Degenfechterinnen überhaupt für die Spiele in Rio qualifiziert.

Von Volker Kreisl, Köln

Die Aussicht ist entmutigend. Die Situation entspricht der eines jungen Fechters, der im wichtigsten Wettkampf des Jahres 7:14 zurückliegt. Und der, weil es nur bis 15 geht, die Hoffnung verliert.

Das ist auch die Lage der deutschen Degenfechterinnen, sie kämpfen in dieser Saison um die Olympia-Qualifikation, aber sie liegen weit zurück, es steht sozusagen 7:14. Sie haben bisher nur halb so viele Weltranglistenpunkte gewonnen wie die Konkurrenz, und verkürzt gesagt muss das Team am Sonntag in Legnano in Italien und in den drei Weltcups danach mindestens ins Halbfinale kommen. Sonst findet Olympia in Rio ohne deutsches Frauen-Degen statt - und wahrscheinlich auch ohne Britta Heidemann. Sie ist die Olympiasiegerin von 2008 und überhaupt die deutsche Medaillenfechterin, und weil sie an der Achillessehne des linken Beins verletzt ist, des Beins, aus dem die Kraft für die Attacken kommt, weil sich also alles gerade recht dramatisch zuspitzt, erwartet man, auf eine kurz angebundene, angespannte Sportlerin zu treffen. Doch Britta Heidemann erzählt erst mal vom Jahr 2000, von ihrem eigenen 7:14.

Hätte es diesen Rückstand damals nicht gegeben, sagt sie, "wäre ich vielleicht gar nicht Fechterin geworden". Heidemann war 2000 noch Fünfkämpferin, und dass sie sich aufs Fechten verlegte, lag an diesem 15:14-Sieg im Weltcup. Punkt für Punkt hatte sie aufgeholt, mit jedem Mal mehr Sicherheit gewonnen und am Schluss die Einsicht: "Ich habe Freude an solchen Herausforderungen, an dem Stress und dem Druck."

Heidemann war damals schon professionell gelaufen und geschwommen, aber diese Freude kannte sie aus diesen Disziplinen nicht: "Dieses Gefühl, nach einer langen Aufholjagd den letzten Treffer zu setzen, das ist unbeschreiblich", sagt sie. Darin lag also der Antrieb für eine Karriere mit 14 WM- und Olympiamedaillen, und vielleicht liegt darin auch das Rezept dafür, wie sie und ihre Degen-Kolleginnen Monika Sozanska, Riccarda Multerer und Alexandra Ndolo doch noch nach Rio kommen können im August 2016.

Heidemanns Erfolge haben viel mit Bewusstsein zu tun. "Ich nehme die Ziellinie ins Visier", sagt sie, "das Rennen ist erst vorbei, wenn man angeschlagen hat." Das Problem ist, dass auch bei den größten Siegertypen die Ziellinie manchmal in der Ferne verschwindet, sonst wäre Heidemann nicht immer wieder in Bedrängnis geraten. Nur, bislang bekam sie das Wesentliche doch stets rechtzeitig in den Blick, ihr Olympia-Auftritt in London ist ein gutes Beispiel dafür. Es war ein Montag, und der hatte schlecht begonnen. Heidemann war gegen die Italienerin Bianca Del Carretto 10:13 zurückgelegen, spät wurde ihr klar, dass sie mit den letzten 20 Sekunden des Gefechts noch viel anfangen kann. "Ich hatte die Haltung, dass es wenigstens Spaß machen muss und ich eventuell auch gewinnen kann", sagt sie. Es war noch Nachmittag, sie gewann, und der Abend wurde dann unvergesslich.

In der Welt der Selbstmotivation der Britta Heidemann hat ein Zustand die Hauptrolle. Es gehe dabei nicht um ein "gutes" Gefühl, sagt sie, es sei viel banaler: "Das A und O ist das Gefühl, gut vorbereitet zu sein." Nur, da hat sie jetzt ein Problem. Denn wie soll man sich gut vorbereitet fühlen, wenn die Achillessehne nur Ruhe gibt, wenn sie kaum belastet wird? Wirklich gefochten hat sie zuletzt fast nicht, die meiste Konditionsarbeit hat sie auf Geräten absolviert, in einer Ergometer-WM würde sie einen vorderen Platz belegen.

Doch es ist gar nicht so kompliziert, wie es sich anhört. Die Sehne bleibt zwar ein Unsicherheitsfaktor, aber Heidemann fühlt sich trotzdem optimal vorbereitet vor Legnano. Sie setzt bewusst auf Entlastung, um keine längere Entzündung zu provozieren, und zudem auf 15 Jahre Erfahrung. Sie lektioniert mit ihrem Trainer (eine Art Trockentraining für Arme und Oberkörper), und die notwendigen Bewegungen auf der Fechtbahn kennt sie. Ansonsten blendet sie aus. Mehr und mehr zieht sie sich zurück, bis alle Störungen, alle Zweifel und Streitereien draußen bleiben.

Davon redet jeder Sportler, doch man kommt nur mit Übung in den Tunnel, sagt Heidemann. Manchmal fährt sie jemandem über den Mund, manchmal schreibt sie sich auf, was nach dem Wettkampf noch zu klären ist. "Man muss seine Sorgen nehmen", sagt Heidemann, "und in einer Schublade verstauen."

Britta Heidemann gilt als Expertin für den letzten Treffer

Das ganze Team braucht wohl viele Schubladen, denn es läuft wohl weiterhin auf den letzten Moment hinaus. Zwei von den letzten drei Wettkämpfen hatten die Deutschen mit einem Treffer Unterschied verloren, also im letzten Teilgefecht vor dem Zeitablauf gepatzt. Besonders ärgerlich war das 42:43 im WM-Achtelfinale gegen den Weltranglisten-Ersten China. Das klingt nach Nervenschwäche, doch Heidemann ist überzeugt, dass sich das Team weiterentwickelt. "Wenn man mit einem Treffer verliert, kann man auch mal mit einem Treffer gewinnen", sagt sie.

Für den letzten Treffer gilt Heidemann seit jenem Montag in London als Expertin. Es begann das Sudden Death, die Entscheidungsminute um den Finaleinzug, aber wegen der Unterbrechungen wirkte sie wie eine lange Aufholjagd. Es stand 5:5, und Heidemann wurde die Angriffspflicht zugelost. Sie musste treffen, die Koreanerin Shin A Lam nur zeitgleich dagegenhalten und einen Doppeltreffer auslösen. "Ich wollte unbedingt diese Entscheidung", sagt Heidemann, "ich wollte bei Olympia nicht wegen eines Loses ausscheiden."

Fünfmal traf sie, fünfmal lief sie in Shins Parade. Dann stand die Uhr bei einer Sekunde, dann parierte Shin einen Treffer, dann hatte die Uhr einen Aussetzer und stand auf Null. Sie wurde auf eine Sekunde zurückgestellt, dann nahm Heidemann einen Sprintanlauf, traf - und holte Silber.

Shin A Lam protestierte eine gute halbe Stunde, sie setzte sich auf die Planche und weinte, und Heidemann freute sich, weil sie die Ziellinie nicht aus den Augen verloren hatte.

© SZ vom 24.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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