FC Liverpool:Klopps Taktik ist für England neu

Von Sven Haist, London

Das Büro von Jürgen Klopp strahlt Wohlbefinden aus. Eine Glaswand hinter seinem Arbeitsplatz durchflutet den Raum mit Tageslicht. Vor seinem Schreibtisch steht ein beiges Sofa, auf dem es sich der Trainer des FC Liverpool und sein neunjähriger Nachhilfelehrer bequem gemacht haben. Es geht um Begrifflichkeiten des Liverpooler Dialekts, die Klopp im besten Fall erraten soll und dann von Isaac, einem Fanjungen, erklärt bekommt. Einmal umarmt Klopp den Jungen und prophezeit ihm eine Karriere als Fußballer oder Musiker. Warme Worte fallen, und Klopp baut ein paar seiner bereits bekannten Witzeleien ein.

So sieht der Inhalt eines Videos aus, das seit einiger Zeit sozusagen als Botschaft des Premier-League-Klubs FC Liverpool um den Globus zieht.

Nach dem Prinzip des Schneeballsystems wird die kleine Unterrichtsstunde in Scouse, der Mundart an der Mersey, von einem Kontinent zum nächsten geworfen. Der Absender heißt immer Liverpool, das Produkt trägt den Namen Jürgen Klopp. Vorbei die Zeiten, als Klopp andere Waren im Fernsehen anpries, mittlerweile ist er die Marke, die verkauft wird - Abnehmer gibt es genügend.

Vorwiegend die Medien, die sich wie eine Hundehorde auf Klopp stürzen, als würde der ein rohes Stück Fleisch verteilen. Jeder Satz wird ihm aus der Hand geschleckt. Das am besten schmeckende Leckerli ist Klopps gespielte Entrüstung - "Bist du verrückt?" - auf die Frage nach einem möglichen Gewinn der Meisterschaft.

Zwei Spiele fehlen bis zur Rückkehr nach Wembley

Das verbale Bonmot ereignete sich nach dem Auswärtssieg bei Chelsea, damals war es der erste Erfolg von Klopp bei seinem neuen Arbeitgeber. Dem 3:1 an der Stamford Bridge hat Liverpool allerdings bei Manchester City ein gesteigertes 4:1 folgen lassen und am vergangenen Mittwochabend gar ein 6:1 im Viertelfinale des Ligapokals in Southampton. Zwei Halbfinalpartien gegen Stoke City Ende Januar trennen Klopp vor einer beruflichen Rückkehr ins Wembley-Stadion, wo auf ihn jedoch statt der Champions-League-Trophäe die Plakette des Ligapokals warten würde.

Diesen nutzlosen Wettbewerb gewannen die Reds vor drei Jahren. Selbst eine Duplizität des Ereignisses könnte selbstverständlich die seit mehr als zwei Jahrzehnten vergeblichen Bemühungen auf eine Meisterschaft nicht entschädigen, allerdings etwas trösten. Neun Punkte trennen die Reds von der Tabellenspitze, der Spielplan gibt grünes Licht für eine Aufholjagd bis Neujahr. Nur Leicester City flößt Vorsicht ein; Newcastle United dagegen, der nächste Gegner am Nikolaustag (17 Uhr), ist Vorletzter.

Chelsea, Arsenal und ManU mit Problemen

Auswärts kracht es aktuell sowieso bei Liverpool. Die Teams von Klopp bevorzugen es, Spielanteile abzugeben und sich auf das taktische Stilmittel des schnellen Gegenstoßes nach Balleroberung auszurichten. Borussia Dortmund hat dieser Schachzug gelb erleuchten lassen, zwei Meisterschaften und einen glorreichen Pokalerfolg hat der BVB unter Klopp eingeheimst. An diesem Stern haben sich der FC Bayern und Real Madrid geblendet.

Fußball-England war davon nicht betroffen, weil es zu oft traumwandelt. Die Klub-Verantwortlichen ziehen ihre Sonnenbrillen auf und erliegen dem Trugschluss, dass sich das meiste Fachwissen automatisch dort aufhält, wo das größte Geldreservoir lagert. Das hat sie in Sicherheit gewiegt - bis nacheinander in dieser Saison Chelsea, ManCity und Southampton der Sichtschutz weggenommen wurde.

Erst jetzt fängt der Rest der Konkurrenz an, sich über das Liverpooler Anforderungsprofil Gedanken zu machen. Hilfestellung erhalten sie ausgerechnet in Anfield, der Brutstätte der Klopp-Folklore. Aus Respekt igeln sich die Gegner am Strafraum ein und suchen mit Befreiungsschüssen einen Ausweg aus dem Labyrinth der Balljagdhasardeure. Sie docken damit an einer empfindlichen Stelle in Liverpools System an: dem Spielaufbau. In der frühen Phase unter Klopp gab es noch keine Zeit für eine Restauration auf diesem Gebiet, zumal der 48-jährige Stuttgarter sowieso nie durch ausgefuchstes Agieren mit dem Ball gegen eine geordnete Abwehr aufgefallen ist.

Die anderen Star-Trainer sind viel mit sich beschäftigt

Der taktische Vorsprung auf der roten Merseyside, der sich in erster Linie durch Klopps Assistenten Zeljko Buvac eingestellt hat, ist besorgniserregend. Die großen Figuren der englischen Trainerszene Arsène Wenger, José Mourinho und Louis van Gaal sind vorwiegend mit internen Kämpfen beschäftigt. Und Manuel Pellegrini wird zwar Ingenieur genannt, aber die meisten Menschen finden, dass Manchester City gegebenenfalls trotz und nicht wegen Pellegrini Meister wird. Die Schwäche der Konkurrenz ist derzeit die größte Stärke der Reds.

Als erster der ruhmreichen englischen Klubs hat also der FC Liverpool mit der Verpflichtung von Jürgen Klopp einen Strategiewechsel eingeleitet. Eine Hochrechnung ist gewagt. Den Verein plagen noch die Altlasten der Phase unter Klopps Vorgänger Brendan Rodgers. Der Gedanke ist aber keinesfalls mehr verrückt, dass der Zeitvorsprung, den sich die Reds durch ihre frühen Sanierungsmaßnahmen verschafft haben, bald an der Tabelle abzulesen sein wird.

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