Fußball in England:Klopp hat sich in Liverpools Herzen gecoacht

Selbst wenn sein Klub das Europa-League-Finale verlieren sollte: Jürgen Klopps erstes Jahr auf der Insel ist ein Erfolg. Er hat einen eingeschlafenen Mythos geweckt.

Von Sebastian Fischer, Basel

Jürgen Klopp war allein. Zumindest fühlte er sich so, hat er gesagt. Es war kalter November in England, der FC Liverpool spielte an der Anfield Road gegen Crystal Palace, und nach 82 Minuten traf ein Mann namens Scott Dann per Kopfball zum 2:1 für die Gäste, es sollte das Siegtor für Palace sein.

Klopp, damals seit einem Monat Liverpools Trainer, stand in seiner Allwetterjacke am Seitenrand, zum Schutz gegen den strömenden Regen hatte er eine Kappe aufgezogen. Über ihm, auf der Tribüne des Stadions, standen die Menschen in Scharen von ihren Plätzen auf und gingen nach Hause, zwölf Minuten vor dem Abpfiff. "Ich habe mich ziemlich einsam gefühlt", sagte Klopp.

Ein halbes Jahr später haben mehr als 10 000 Menschen den Trainer und seine Mannschaft nach Basel begleitet, wo der FC Liverpool am Mittwoch (20.45 Uhr) im Europa-League-Endspiel gegen den FC Sevilla steht. Vor ein paar Tagen hat der Trainer angekündigt, es würden 100 000 Liverpudlians nach Basel kommen - und die vollmundige Ansage kurz darauf aus Vorsicht wieder zurückgenommen, weil er befürchtete, die Fans könnten die beschauliche Schweizer Stadt überrennen; offiziell hat der europäische Verband Uefa dem Klub ein Kontingent von 11000 Tickets zugestanden.

Die Anhänger des Klubs, in dessen DNA das Never-walk-alone geschrieben steht, werden Klopp so schnell nicht mehr allein lassen. Dafür sind sie längst viel zu stolz auf ihn.

Lob von der englischen Presse

Dabei hat Klopp, 48, in den vergangenen sechs Monaten auf den ersten Blick gar nicht so viel besser gemacht. Als er im Oktober ankam, war Liverpool Zehnter. In der Abschlusstabelle sind die Reds Achter. Doch auf den zweiten Blick ist alles anders. Pathetisch könnte man sagen: Seit jenem Abend im November hat er begonnen, den eingeschlafenen Mythos Anfield zu wecken. Er hat den Leuten in Liverpool ins Gedächtnis gerufen, was sie vergessen hatten: dass sie gebraucht werden.

Zum dritten Mal Sevilla? - Die Sieger der Uefa Europa League

2010

Atlético Madrid - FC Fulham n.V. 2:1 (1:1, 1:1)

2011

FC Porto - Sporting Braga 1:0 (1:0)

2012

Atlético Madrid - Athletic Bilbao 3:0 (2:0)

2013

Benfica Lissabon - FC Chelsea 1:2 (0:0)

2014

FC Sevilla - Benfica Lissabon i.E. 4:2 (0:0)

2015

Dnipro Dnipropetrowsk - FC Sevilla 2:3 (2:2)

2016

FC Liverpool - FC Sevilla Sport 1 / Mi. 20.45

Klopp, der fußballverrückte Charmeur, hat sich in die Herzen der Menschen gecoacht, geschrien, gefuchtelt und gewitzelt. Der Guardian schreibt anlässlich des Finales in Basel: "Sieg oder Niederlage, Klopps erstes Jahr in England ist ein Erfolg."

Klopps Spiel: Immer drauf, immer Vollgas

Nun spielte Liverpool unter Klopps Vorgänger Brendan Rodgers auch zeitweise erfolgreich, 2014 wurden die Reds gar fast englischer Meister - allerdings mit einem emotionslosen Spielentwurf. Liverpool stand sicher und tief in der eigenen Hälfte und konterte. Rodgers hätte wohl nie getan, was Klopp nach einem Unentschieden gegen West Bromwich Albion im Dezember veranlasste, in einer spontanen Laune, wie er hinterher erklärte. Die Fans, die fünf Wochen zuvor gegen Crystal Palace das Stadion noch vorzeitig verlassen hatten, waren nun bis zur Nachspielzeit geblieben, in der den Reds der Ausgleich glückte. Anfield bebte seit Monaten mal wieder, und Klopp orderte seine Spieler zum Feiern vor die Stehplatztribüne - nach einem Remis gegen eine Mannschaft aus dem Tabellenmittelfeld. Die Kommentatoren registrierten es kopfschüttelnd.

In einem Interview mit dem Magazin 11 Freunde bezeichnete Klopp die Aktion jüngst als "größtes Missverständnis meiner bisherigen Englandgeschichte". Doch es brauchte dieses Missverständnis, damit er sich erklären und sie ihn verstehen konnten: Fußball und Emotion - es sollte fortan wieder untrennbar miteinander verbunden sein, was sich in der reichsten Liga der Welt vielerorts entzweit hat. Nicht alle Ergebnisse, sondern besondere Momente haben Klopp in dieser Saison recht gegeben. Zwar hat Liverpool oft leichte Spiele verloren, dafür aber in den wirklich wichtigen Spielen mit lautem Krach gewonnen: das berühmte 4:3 gegen Dortmund, 3:0 gegen ManCity, 2:0 in der Europa League gegen ManUnited, 3:0 gegen Villarreal im Halbfinale. Außerdem erreichte Liverpool das League-Cup-Endspiel gegen ManCity.

Klopps berühmte Spielweise, zunächst als unökonomisch gegeißelt, funktioniert noch nicht konstant, erfüllt aber urbritische Fußballfantasien: immer drauf, immer Vollgas. Besonders bedeutsame oder ikonische Worte haben die Engländer von den Deutschen übernommen, sie sagen Bratwurst oder Blitzkrieg. Seit dieser Saison sagen sie auch Gegenpressing. In der Premier League wenden dieses andernorts längst flächendeckend genutzte und in Dortmund von Klopp bekannt gemachte Stilmittel des Attackierens nach Ballverlust nur Tottenham und Liverpool an.

Klopp ist ein "Magnet für Spieler"

Fehler werden ihm verziehen: Wenn die Mannschaft verliert, war sie schuld; wenn sie gewinnt, dann war es Klopp. Anders als seinem oft hadernden Vorgänger Rodgers wird dem Deutschen zugetraut, den Kader nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Klubikone John Aldridge nannte den Trainer in seiner Kolumne für das Liverpool Echo einen "Magnet für Spieler" - zumal, wenn den Reds mit einem Sieg gegen Sevilla gar der völlig unverhoffte Einzug in die Champions League gelingen sollte. Ansonsten würde das Team nicht international spielen in der kommenden Saison.

Das Team ist in Teilen gut besetzt, etwa in der Offensive mit Roberto Firmino und dem lange verletzten Daniel Sturridge. Doch defensiv hat Liverpool Schwächen, im Mittelfeld hängt zu viel vom 22 Jahre alten deutsche Nationalspieler Emre Can ab, Torwart Simon Mignolet ist fehleranfällig wie die Innenverteidigung, zumal Abwehr-Hüne Mamadou Sakho wegen einer Dopingsperre, die die Uefa wohl bald verhängen wird, voraussichtlich lange fehlt. Auch das ist ein Zeichen der natürlich etwas übertriebenen Euphorie: Ein Stammspieler dopt, und die britische Öffentlichkeit tut der Branche den Gefallen, den Fall vor einem Finale weitestgehend zu ignorieren.

Sakho könnte in der kommenden Saison durch den Schalker Zugang Joel Matip ersetzt werden, Mignolet durch den Mainzer Loris Karius, mit dem sich Klopp einig sein soll, auch ein Transfer von Mario Götze nach Liverpool deutet sich an. Ob Karius das Format zum Champions-League-Torwart hat? Ob Götze in der Premier League bestehen kann? Jürgen Klopp ist im Oktober mit den Worten angetreten, aus Zweiflern Gläubige machen zu wollen. In Liverpool glauben sie ihm.

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