FC Bayern:Komm mal runter auf die Erde!

Die ungewöhnlich harte Attacke von Klubboss Karl-Heinz Rummenigge gegen Abwehrspieler Jérôme Boateng zeigt, wie angespannt die Lage beim FC Bayern nach dem 2:3 in Rostow ist.

Von Johannes Aumüller, Rostow

Die Gelegenheit war günstig, nur ein leicht abnehmbares Absperrband versperrte Jérôme Boateng die Abkürzung in Richtung Mannschaftsbus, aber er hielt das offenbar für keine sinnvolle Option. Stattdessen bewegte er sich vorschriftsmäßig durch den umständlichen Parcours, der ihn nach einer 180-Grad-Kurve direkt vor zahlreiche Mikrofone und Notizblöcke führte. Da blickte er dann so drein, wie er meistens dreinblickt, und klang er so, wie er meistens klingt. Aber es war dennoch zu spüren, dass es anders war als sonst.

Jérôme Boateng, 28, das ist der Mann, der in den vergangenen Jahren als Synonym für Stabilität und Sicherheit galt. Doch nach dem unerwarteten 2:3 (1:1) in der Kälte von Rostow soll Boateng jetzt mit einem Mal etwas ganz anderes sein: das Symbol dafür, dass es beim FC Bayern in diesen Tagen gehörig schiefläuft.

Boateng war derjenige, der beim Champions-League-Spiel in Russland zwei Tore verschuldete. Und er war derjenige, der sich anschließend eine ungewöhnlich harte Schelte anhören musste - vom Klubboss Karl-Heinz Rummenigge. Der sagte über Boateng ruhig, aber in der Wortwahl sehr barsch: "Jérôme muss wieder mehr zur Ruhe kommen. Das ist mir seit Sommer ein bisschen zu viel Hype gewesen." Und er fügte an: "Es wäre in seinem Sinne und im Sinne des Klubs, wenn er wieder ein bisschen runterkommt - back to earth!" Um sicherzugehen, dass diese Botschaft auch ankommt, streute sie Rummenigge in nur leicht variierender Wortwahl durch gleich mehrere Interviews. Der FC Bayern ist im Spätherbst 2016 in einer schweren, in dieser Form lange nicht mehr erlebten Situation angelangt. Nach dem 0:1 in Dortmund ist der Serienmeister in der Liga nur noch Zweiter, und nach dem 2:3 in Rostow schafft er es in der Champions League nur als Gruppenzweiter hinter Atlético Madrid ins Achtelfinale. In den vergangenen sieben Pflichtspielen gewannen die Bayern nur zweimal, was eher nach einer Bilanz von 1860 München klingt. Entsprechend angespannt gehen sie in die nächsten Tage, in denen zunächst am Freitagabend die Rückkehr von Uli Hoeneß ins Präsidentenamt ansteht - und dann am Samstag das Liga-Spiel gegen Leverkusen, das für die Klub-Stimmung schon eine Art Finale ist.

FC Rostov v FC Bayern Muenchen - UEFA Champions League

Schmerzhafter Gang in die Kabine: Jérôme Boateng (links neben Thiago) verlässt nach zwei kapitalen Fehlern angeschlagen das Feld.

(Foto: Joosep Martinson/Getty)

Kapitän Philipp Lahm mahnte in Rostow daher, die Mannschaft agiere zu "sorglos". Trainer Carlo Ancelotti tat kund, er übernehme "die volle Verantwortung" für diesen nächsten Rückschlag. Und bei Rummenigge dokumentierte sich der Frust im Rüffel für Boateng, der ungewöhnlich scharf ausfiel - insbesondere angesichts der Tatsache, dass es in den vergangenen Jahren beim FC Bayern schon eine Beleidigung zu sein schien, wenn der Trainer einen Spieler nicht top-top-top oder top-top nannte, sondern lediglich top.

Aber Rummenigge wollte sich in dieser kritischen Phase offenbar gezielt eine der prägenden Gestalten des Teams vornehmen, und Boatengs jüngere Vergangenheit war ja durchaus bemerkenswert. Aus dem Mann, der früher gerne für einen Aussetzer gut war, ist über die Jahre ein Innenverteidiger geworden, der sich durch viele außergewöhnliche Fähigkeiten das Etikett "Weltklasse" verdient hat. Am WM-Titel 2014 hatte er ebenso maßgeblichen Anteil wie an den vier Münchner Meisterschaften nacheinander, und im Sommer wurde er nicht von ungefähr als erster Verteidiger seit fast zwei Dekaden zu Deutschlands "Fußballer des Jahres" gewählt.

FK Rostov vs Bayern Munich

Bequemer Aufenthalt in der Eiseskälte: Aleksandr Gatskan (oben) nimmt auf dem Münchner Renato Sanches Platz.

(Foto: Maxim Shipenkov/dpa)

Aber längst geht es bei Boateng nicht um die rein sportliche Entwicklung, er ist auch eine Art Marke. Erkennbar gerne will er das sein, was die Fußballbranche "Führungsspieler" nennt. Das zeigte sich auch vor ein paar Wochen, als er die Offensive des FC Bayern kritisierte. Fast wahlkampagnenhaft warb er nach der EM für sich selbst als neuen Kapitän der Nationalmannschaft, aber Bundestrainer Joachim Löw übertrug diese Aufgabe an Torwart Manuel Neuer.

Darüber hinaus - und das dürfte Rummenigge mit seiner "back to earth"-Anmerkung in erster Linie gemeint haben - ist Boateng so vielfältig engagiert, dass fast die Frage erlaubt sein muss, ob er ein Fußballer mit Nebentätigkeiten ist oder ein Markenpfleger, der nebenbei Fußball auf höchstem Niveau spielt. Boateng hat eine eigene Brillenkollektion, lässt sich für den amerikanischen Markt von der Firma des Rappers Jay Z managen - und ist nicht nur zum Fußballer des Jahres, sondern von den Lifestyle-Reportern des Magazins GQ auch zum "Mann des Jahres" in der Kategorie Sport gekürt worden. Angela Merkel empfing Boateng zum Tag der offenen Tür im Kanzleramt. Während der US-Marketingreise des FC Bayern eröffnete Boateng, gemeinsam mit Rummenigge, die New Yorker Börse. Und kürzlich flog er zwischen zwei Spielen mit den Kollegen Alaba und Ribéry zu einem NFL-Spiel nach London; das jedoch mit Genehmigung des Klubs, der sich im Rahmen seiner Internationalisierung von solchen Reisen PR verspricht. Nicht nur deswegen wirkt Rummenigges Kritik auch ein wenig schräg. Der Vorstandschef selbst hatte ja vor der Reise den Auftritt in Rostow kleingeredet: "Das wichtige Spiel diese Woche, das sage ich ohne jegliche Übertreibung, findet am Samstag statt." Als Boateng nach der Partie vor den Reportern stand, war ihm Rummenigges Attacke noch nicht bekannt. "Wir sind auseinandergebrochen. Die Tore sind zu einfach, da müssen wir als Mannschaft besser verteidigen", sagte er nur. Erst am Donnerstag nahm er dann Stellung: Die Kritik an seiner Leistung sei "berechtigt", sagte er der Bild, "ich habe nicht gut gespielt". Das liege halt auch daran, dass er nach seiner Verletzung bei der EM und dem späten Einstieg in die Vorbereitung noch nicht wieder bei 100 Prozent sei. Der Grund seien also nicht "irgendwelche PR- oder Lifestyle-Termine", sagte er. "Wer mich kennt, weiß, dass ich immer alles tue, um in Top-Form zu sein." Eine gute Nachricht gab es im Zusammenhang mit Boateng dann doch noch: Seine in Rostow erlittene Oberschenkelverletzung, wegen der er in der 58. Minute ausgewechselt worden war erwies sich lediglich als Muskelverhärtung. Er soll gegen Leverkusen bereits wieder zur Verfügung stehen. Bleibt nur noch abzuwarten, ob er bis dahin schon zur Erde zurückgekehrt ist.

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