FC Bayern gegen Dortmund im Champions-League-Finale:Blitztabelle der Evolutionsgeschichte

Champions League - Wembley Stadion

Deutsches Finale in London: FC Bayern gegen Borussia Dortmund

(Foto: dpa)

Wer sich auf die Suche nach dem perfekten Spiel macht, muss schnell feststellen: Eine "beste Mannschaft aller Zeiten" kann es gar nicht geben. Machtverhältnisse im modernen Fußball sind immer nur ein Zwischenergebnis. Doch ist es gewiss kein Zufall, dass mit dem FC Bayern und Borussia Dortmund zwei deutsche Mannschaften im Finale der Champions League stehen.

Von Boris Herrmann

Wembley-Stadion, Borussia Dortmund gegen den FC Bayern München, 90 Minuten oder auch 120, vielleicht ein Elfmeterschießen, weinen, jubeln, duschen, ab nach Hause. Gemessen an der ganzen Aufregung, die dieses Fußballspiel seit Wochen im Bugwasser vor sich herschiebt, gemessen an der Dauerberieselung aus Interviews und Expertenrunden, gemessen auch an all dem Bier, das in deutschen Kühlschränken kalt steht, gemessen an alldem wird die Veranstaltung am Samstag in London ziemlich schnell wieder vorbei sein. Vielleicht wird es eine kleine Weltausstellung des deutschen Fußballs. Vielleicht wird es aber auch nur ein öder Kick, so wie neulich in der Bundesliga. Große Spiele haben es im Leben manchmal so schwer wie Silvester-Partys: Jeder meint, es müsse etwas Einzigartiges passieren und nicht selten sackt dann der ganze Abend unter der Last der Erwartungen in sich zusammen.

Nüchtern betrachtet geht es in Wembley um die Frage, ob die Dortmunder oder die Münchner einen besseren Tag erwischen, ob die einen genauer zielen oder die anderen mehr Glück haben. Nur: Wer käme schon auf die absurde Idee, solch ein Champions-League-Finale nüchtern zu betrachten? Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt, schreibt der große Geschichtenerzähler Christoph Ransmayr. Und über dieses Spiel, das erste dieser Art für den deutschen Fußball, werden nun einmal verdammt viele Geschichten erzählt. Demnach geht es auch um die Vorherrschaft in Fußballdeutschland. Um Pott gegen Kohle. Aki gegen Uli. James Bond gegen Goldfinger. Und nicht zuletzt um die Frage, wer im Moment die beste Mannschaft Europas ist, mindestens. Im Sport, vor allem da, ist der Komparativ nur der doofe kleine Bruder des Superlativs.

Bayerns Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge verkündete neulich: "Wir haben den Traum, die beste Mannschaft der Welt zu werden." Dortmunds Trainer Jürgen Klopp sagte: "Wenn wir gewinnen, heißt es nicht, dass wir die beste Mannschaft der Welt sind, sondern, dass wir die beste Mannschaft der Welt besiegt haben." Wobei Klopp keineswegs im Verdacht steht, die Dinge unnötig zu relativieren. Im Guardian bezeichnete er seinen BVB als das "interessanteste Fußballprojekt der Welt". Sein langjähriger Klassenprimus Mario Götze sieht das vermutlich schon wieder anders, sonst hätte er nicht beim FC Bayern unterschrieben. Es scheint überhaupt eine Frage der persönlichen Lebensumstände zu sein, wie hier die Akzente gesetzt werden. Fragt man einen jungen Berliner nach dem besten Klub der Welt, dann sagt er mit großer Wahrscheinlichkeit: das Berghain, natürlich.

Aus den Fugen geraten

Die Besten der Welt - darunter machen es die Europäer jedenfalls nicht, wenn sie über ihr Kontinentalfinale reden. Bis vor kurzem hing dieses Attribut ziemlich penetrant dem FC Barcelona an. Fast hatte man den Eindruck, der kleine Einschub gehöre bereits zum Vereinsnamen. "Der FC Barcelona, die beste Mannschaft der Welt, hat durch ein 6:1 gegen Getafe seine Tabellenführung ausgebaut", solche Sätze hörte man ständig. Und bisweilen klang das ja tatsächlich so selbstverständlich wie: Der Nil, der längste Fluss der Welt, hat auch heute wieder das Mittelmeer erreicht.

Der aktuelle Weltpokalsieger heißt übrigens Corinthians und kommt aus São Paulo, aber das tut hier im alten Europa wenig zur Sache. Auch im Fernsehkommentar zum Champions-League-Halbfinale zwischen München und Barcelona war zunächst noch alles wie immer: "Wohlgemerkt, die Bayern führen hier mit 2:0 gegen die beste Mannschaft der Welt!" Nach zwei Spielen stand es 7:0. Und spätestens da ist dann etwas aus den Fugen geraten.

Während El Mundo aus Madrid fast noch schüchtern formulierte: "Bayern München ist derzeit möglicherweise das beste Team in Europa", legte sich der Münchner Focus bereits fest: "Jetzt ist der FC Bayern die beste Mannschaft der Welt."

Der ehemalige Nationaltorhüter Jens Lehmann kann sich, das nur am Rande, auch nicht erinnern, jemals eine bessere deutsche Mannschaft gesehen zu haben. Und Jens Lehmann hat schon viele Mannschaften erlebt. Er spielte bei Schalke, Stuttgart, Dortmund, beim FC Arsenal und beim AC Mailand. Milan galt auch mal als die beste Mannschaft der Welt, allerdings lange bevor Lehmann kam. Es war die Zeit unter dem Regiment von Trainer Arrigo Sacchi, Ende der Achtzigerjahre.

Dieser Sacchi hat vor einigen Wochen, nachdem die Münchner im Viertelfinale Juventus Turin filetiert hatten, einen Liebesbrief an den FC Bayern verfasst, den die Gazzetta dello Sport abdruckte. Er schrieb, die Deutschen hätten einen "totalen Fußball" wie vor 30 Jahren gespielt. Das war wirklich ein bemerkenswertes Kompliment, denn damit bezog sich Sacchi selbstredend auf seinen AC Mailand mit Spielern wie Paolo Maldini und Franco Baresi, mit Ruud Gullit und Marco van Basten. Und Sacchi ist ein Mann, der bislang in aller Bescheidenheit behauptete: "Mein Milan war die beste Mannschaft der Geschichte."

Spektakel der Unvernunft

An dieser Stelle wird es erst recht kompliziert mit dem Superlativ. War das Real Madrid von di Stefano besser oder der FC Santos von Pelé? Hätte das Ajax Amsterdam von Cruyff den FC Barcelona von Messi in die Knie gezwungen? Und wie hätte sich wohl Sacchis Milan gegen Klopps Dortmunder oder Heynckes' Bayern geschlagen? Es ist ein herrlicher Unsinn, sich solche Fragen zu stellen. Genau so könnte man sich den Kopf darüber zerbrechen, ob Winston Churchill wohl den Euro gerettet hätte? Ob Batman hält die Welt in Atem ein guter Film geworden wäre, wenn Bill Murray mitgespielt hätte? Und ob jemals eine Platte von den Strokes verkauft worden wäre, wenn es die Kinks noch gäbe? Das Besondere an der Welt des Fußballs ist, dass solche Fragen hier tatsächlich thematisiert werden. Im Moment mehr denn je. Und fast alle machen mit.

Jeder, der ein bisschen nachdenkt, weiß natürlich, dass sich Kulturgüter nur im Kontext ihrer jeweiligen Zeit seriös bewerten lassen. Pep Guardiola ist zum Beispiel ein Mann, der im Laufe seiner vier Lebensjahrzehnte schon so viel nachgedacht hat, dass ihn eine glänzende Denkerglatze schmückt. Als er auf dem Höhepunkt seiner Karriere beim FC Barcelona, nach dem 3:1 im Champions-League-Finale 2011 gegen Manchester United, die Frage aller Fragen zu hören bekam: "Ist das jetzt die beste Mannschaft, die es jemals gab?", da sagte er: "Ich weiß es nicht." Es war die einzig vernünftige Antwort.

Der Fußball aber ist ein Spektakel mit der Unvernunft, was nicht zuletzt ein Grund sein könnte dafür, dass der angeblich "beste Trainer der Welt" gerade ein Sabbatical hinter sich hat. Wenn Guardiola demnächst seinen Dienst an der Säbener Straße antritt, dann wird man ihn wieder an allerlei Superlativen messen. An jenen der Rekordbayern des Jahres 2013 und natürlich auch an jenen, die er mit dem FC Barcelona selbst aufgestellt hat.

Blitztabelle der Evolutionsgeschichte

Der Fußballdiskurs kommt offenbar ohne historische Einordnungen nicht aus. Wenn man sich darauf einlässt, wenn man sich also auf die Suche nach dem perfekten Spiel macht, dann stößt man schnell auf die Erkenntnis, dass es keinen singulären Schöpfer gab und es deshalb auch keine "beste Mannschaft aller Zeiten" geben kann. Die Machtverhältnisse im modernen Fußball sind stets ein Zwischenergebnis, die Blitztabelle einer Evolutionsgeschichte. Die großen Vordenker dieses Spiels haben genau das verstanden, sie reagierten, adaptierten und führten zusammen, sie nahmen Vorhandenes und schufen damit Neues.

Nicht nur Sacchi vertritt die These, drei Teams hätten den Fußball, wie wir ihn kennen, entscheidend geprägt: jenes von Trainer Rinus Michels erschaffene Ajax Amsterdam, das Anfang der Siebziger drei Mal in Serie den Landesmeister-Cup gewann, ferner natürlich Sacchis AC Mailand (Europapokalsieger 1989 und 1990) sowie der FC Barcelona der jüngsten Vergangenheit (Champions-League-Sieger 2006, 2009 und 2011). Leitmotiv dieser Mannschaften war das Bewusstsein für die Zusammenhänge des Spiels. Michels, Sacchi und Guardiola dachten nicht in elf Spielern mit elf Aufgaben, sondern in deren Beziehungen zueinander. Michels schaffte das positionsbezogene Spiel ab und führte das Pressing ein, Sacchi ersetzte den Libero durch eine Viererkette, Guardiola radikalisierte das Primat des Ballbesitzes.

All diese Fachbegriffe klingen unmittelbar vor dem ersten deutschen Derby in einem Champions-League-Finale auch hierzulande nach fußballerischem Grundschulwissen. Dabei hat es unfassbar lange gedauert, bis sich solche Gedanken wirklich verbreiteten. Als Ralf Rangnick 1998 an der Taktiktafel im Sportstudio die Viererkette erklärte, wurde er landesweit mit Häme überschüttet, "Schlaumeier" und "Fußballprofessor" waren noch die nettesten Beleidigungen. Dabei sprach Rangnick über genau jene Errungenschaften, für die Trainer wie Guardiola, aber auch Klopp oder Heynckes heute zu Recht gefeiert werden: über kollektives Pressing, Dreiecksbildung und ballorientierte Raumdeckung.

"Klopp ist gut. Er hat mein Training gesehen"

Der deutsche Fußball hat den Beginn der Moderne fast schon mutwillig verschlafen. Und es passt ins Bild, dass die hiesigen Pioniere der Aufklärung wie Helmut Groß oder Wolfgang Frank heute nur Fußball-Feinschmeckern ein Begriff sind. Groß führte die ballorientierte Raumdeckung um das Jahr 1981 in der Verbandsliga beim SC Geislingen ein, er war der Lehrmeister von Rangnick. Frank trainierte Mitte der Neunziger den damaligen Zweitligisten Mainz 05, sein berühmtester Schüler heißt Jürgen Klopp. In einem Interview mit 11Freunde ließ Sacchi großväterlich wissen: "Klopp ist gut. Er hat mein Training gesehen." Das ist insofern richtig, als sich Frank und Groß stets auf Sacchi, diesen Oberlehrer der Raumverknappung bezogen haben, in unzähligen VHS-Video- Nächten studierten sie die Taktik des AC Mailand der ausgehenden Achtziger.

Es ist gewiss kein Zufall, dass der deutsche Fußball gerade das seltene Privileg erfährt, zwei Teams ins Finale der sogenannten Königsklasse schicken zu dürfen. Die Deutschen haben in den vergangenen Jahren das Lernen erlernt, die Italiener zum Beispiel scheinen es eher verlernt zu haben. Sowohl Klopp als (mit einiger Verspätung) auch Heynckes ist es gelungen, die Lehren aus der Geschichte in der Gegenwart zu verankern. Beide Trainer stehen zu Recht im Finale, weil sie den totalen Fußball mit klassischen deutschen Tugenden verknüpft haben - mit unbedingter Laufbereitschaft, Physis und taktischer Disziplin. Damit kann im Moment nicht einmal der FC Barcelona mithalten, dem nach seinen glorreichen Jahren weniger die Ideen als die Kräfte auszugehen scheinen.

Vielleicht kann man den Stand der Evolution ja auf diese Formel bringen: Milan lernte von Ajax. Barça lernte von Ajax und Milan. Dortmund lernte von Ajax, Milan und Barça. Und der FC Bayern des Jahres 2013 fasste die Erkenntnisse von Ajax, Milan, Barça und Dortmund zu etwas Neuem zusammen. Und deshalb geht er am Samstag als leichter Favorit ins Endspiel.

90 Minuten oder auch 120, vielleicht ein Elfmeterschießen können diesen Strang der Geschichtsschreibung aber auch schnell wieder grundlegend verändern. Noch sind diese Bayern der Gegenwart die vielleicht beste Mannschaft der Welt, die nie einen internationalen Titel gewann.

Statistikvergleich Bayern vs. Dortmund

Hier geht es zum Statistikvergleich Bayern vs. Dortmund

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