FC Bayern:Fußball in der Zwischenwelt

Die Münchner marschieren so locker wie kein anderes Team ins Viertelfinale der Champions League. Aber wo sollen sie sich auf mögliche Gegner wie Barcelona vorbereiten? Etwa in der Bundesliga?

Von Claudio Catuogno, Istanbul

Eine Katze, die direkt neben der Eckfahne auf dem Gras sitzt, dort, wo doch der Ball hin soll für die ordnungsgemäße Ausführung eines Eckstoßes - das hatte Thomas Müller bisher auch noch nicht erlebt. Und weil Müller nicht nur ein mitfühlender Zeitgenosse ist, sondern auch ein Gespür besitzt für die Kuriositäten am Wegesrand, hat er auch über die Katze noch Auskunft gegeben, ehe sich der Bus des FC Bayern Mittwochnacht Richtung Atatürk-Flughafen in Bewegung setzte. "Ich weiß nicht, wie viele Katzen hier im Stadion zu Hause sind", grübelte Müller; diese hier jedenfalls, ein ins Orangenfarbene lappendes Exemplar, das Mitte der zweiten Halbzeit für eine kurze Spielunterbrechung sorgte, tat Müller leid: "Die war schon ein bisschen verängstigt, deshalb waren wir dann froh, als sie den Sprung über die Werbebande geschafft hat."

Katzen, dieser Querpass ins Tierreich muss noch erlaubt sein, haben ein mehr als doppelt so empfindliches Gehör wie Menschen, insbesondere in hohen Frequenzbereichen, deshalb war Müllers Mitleid angebracht. Schon für die 76 000 Menschenohren waren am Mittwochabend ja Hörschäden zu befürchten gewesen in der sogenannten "Hölle am Bosporus".

Besiktas Istanbul vs FC Bayern Munich, Turkey - 14 Mar 2018

Die lustigste Szene des Spiels in Istanbul wird ein Nachspiel haben: Weil der Schiedsrichter wegen dieser Katze die Partie unterbrach, will die Disziplinarkommission der Uefa den türkischen Meister belangen – sie wirft Besiktas „unzureichende Organisation“ und damit einen Verstoß gegen Artikel 16.1 des Disziplinarkatalogs vor.

(Foto: Sedat Suna/EPA-EFE/REX/Shutterstock)

Das war das wirklich große Thema, nachdem der FC Bayern mit einem 3:1 (1:0) bei Besiktas Istanbul das Viertelfinale der Champions League erreicht hatte: die Lautstärke, die Atmosphäre, in der sich dieser Abend zugetragen hatte. Nach dem Abpfiff saßen die Bayern-Profis in der Kabine und versicherten sich gegenseitig: So etwas wie heute hätten sie noch nie erlebt. Nicht in Neapel, nicht in Glasgow, nirgendwo sonst in Europa. Der Stürmer Sandro Wagner, der nach seiner Einwechslung das 3:1 erzielt hatte (84.), erzählte davon hinterher, noch immer ergriffen: "Brutal" sei die Stimmung gewesen, er meinte das anerkennend. Pfiffe, schrill wie tausend Kreissägen, wechselten mit durchchoreografierten Gesängen und Schlachtrufen. Müller hatte "Druck auf dem Trommelfell", Wagner machte "Gänsehaut" geltend, und Mats Hummels twitterte schon zwei Minuten nach Abpfiff: "You just have to love an atmosphere like this @Besiktas". Was wieder beweist, dass die Wahrheit nicht mehr nur auf dem Platz liegt, wenn man heute ein multifunktional vernetzter Fußballprofi sein will, sondern auch im Smartphone.

Nach 180 Minuten steht es 8:1 - aber die Bayern bleiben nach dem Spiel in Istanbul selbstkritisch

Sogar Thiago, der Schütze des frühen Führungstreffers (18.) und bald darauf ausgewechselt wegen Schmerzen unter der Fußsohle, tippte auf der Fahrt zum Flughafen schon wieder in sein Mobiltelefon: "Was für eine Atmosphäre." Am Donnerstag gab der Verein bekannt, dass der Spanier nur für wenige Tage ausfällt, mit einer Zerrung der Sehnenplatte.

Mit 141 Dezibel, gemessen 2013, halten die Besiktas-Fans den Rekord für die lauteste Menschenmenge in einer Fußballarena, eigentlich soll ihr Gebrüll den Gegner einschüchtern, lähmen - wie das zum Beispiel beim 2:0 in der Gruppenphase gegen RB Leipzig gelungen war. Aber dafür hätte es am Mittwoch zumindest eines kleinen Zipfelchens Restspannung bedurft - die war aber nach dem 5:0 der Münchner im Hinspiel dahin. Die Besiktas-Anhänger wurden also tapfer ihrem Ruf als legendäre Kulisse gerecht - aber zum echten Mitfiebern bestand kein Anlass mehr.

Auch das passt zu der Lage, in der die Bayern gerade der entscheidenden Saisonphase in allen Wettbewerben entgegenstreben: Da kriegen sie es schon mit einer der gefürchtetsten Fangruppen Europas zu tun. Und sogar die erweist sich mehr als schöne Folklore denn als echte Prüfung.

So war es mal wieder eines dieser Einerseits-Andererseits-Spiele für die Bayern. Einerseits haben sie ihren Achtelfinal-Gegner in 180 Minuten mit 8:1 hergespielt. Andererseits "hat es sich auf dem Platz nicht so angefühlt", wie Thomas Müller leicht irritiert feststellte. Einerseits war das sogar ein historischer Triumph: Abgesehen von einer Pleite im türkischen Pokal hatte Besiktas in seinem neuen Resonanzkörper-Stadion am Bosporus-Ufer noch kein einziges Pflichtspiel verloren seit der Eröffnung im April 2016. Bis nun der FC Bayern kam. Andererseits konnte man beim Blick auf die Aufstellung auch den Eindruck gewinnen, dass dem Trainer Senol Günes das Derby gegen Basaksehir am Sonntag wichtiger ist, sonst hätte er kaum eine B-Elf aufgeboten. Die sich dann sogar beachtlich schlug und immer wieder Unordnung in Bayerns Deckung brachte.

Besiktas v Bayern Muenchen - UEFA Champions League Round of 16: Second Leg

Applaus der Zweifler: Trotz des 3:1-Sieges in Istanbul waren viele Münchner mit der eigenen Leistung nicht zufrieden.

(Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Die Bayern spielen also weiter in ihrer Zwischenwelt. Sie marschieren so locker wie kein anderes Team in die Runde der letzten Acht. Sie haben nun in Jupp Heynckes den einzigen Trainer, der je elf Spiele in Serie in der Champions League gewann. Aber die Auslosung hat ihnen natürlich in die Hände gespielt, dazu die frühe, durchaus umstrittene rote Karte gegen die Türken im Hinspiel. Und nun sagte Jérôme Boateng nach diesem 3:1: "Wir haben zu viele dumme Fehler gemacht." Einer davon - er hatte einen Konter im Rammbock-Stil unterbunden - bescherte Boateng die zweite gelbe Karte im Wettbewerb; folgt im Viertelfinale eine weitere, muss er ein Spiel aussetzen. Auch "zu viele unnötige Ballverluste" störten Boateng, "da müssen wir kritisch mit umgehen". Ein besonders unnötiger Ballverlust von David Alaba führte zu Vagner Loves Anschlusstor (59.).

Jupp Heynckes hat Verständnis für "die Relax-Phasen" seiner Mannschaft

Dass eine Mannschaft, die sich ihres Weiterkommens sicher ist, "hier und da auch mal Relax-Phasen hat, das ist, denke ich, normal", sagte der verständnisvolle Trainer Heynckes nach dem Spiel, "insgesamt war es aber eine großartige Leistung. Das zeigt unsere Stärke, unsere Cleverness." Einerseits. Andererseits sind bei der Auslosung am Freitagmittag eben Mannschaften wie Manchester City, Real Madrid und der FC Barcelona im Lostopf, und wo bitte soll der FC Bayern sich auf solche Kaliber vorbereiten? In der Bundesliga?

Die Katze übrigens hat womöglich noch mal Glück gehabt. "Ich habe einen Hund, mit Katzen kenne ich mich nicht so aus", sagte Sandro Wagner, Jagdfieber in den Augen. Sonst hätte er "das Viech" schon "eingefangen". Dieses Trauma ist der Katze erspart geblieben im Lärm von Besiktas, immerhin das.

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