FC Bayern:Ancelottis Finger - ein kniffliger Fall für die Justiz

FC Bayern: Bayern-Trainer Carlo Ancelotti behauptet, er sei gegen Hertha BSC angespuckt worden. Für die Fans gab es als Reaktion den Mittelfinger.

Bayern-Trainer Carlo Ancelotti behauptet, er sei gegen Hertha BSC angespuckt worden. Für die Fans gab es als Reaktion den Mittelfinger.

(Foto: AP)
  • In Berlin gelingt dem FC Bayern München ein später Ausgleich in der Nachspielzeit. Als Bayern-Trainer Carlo Ancelotti nach Schlusspfiff in die Kabine geht, zeigt er den Mittelfinger.
  • Der Italiener behauptet, es sei seine Reaktion darauf gewesen, dass er von Hertha-Fans angespuckt worden sei. Die Geste wird dennoch Konsequenzen durch den DFB-Kontrollausschuss haben.
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Von Klaus Hoeltzenbein, Berlin

Das Olympiastadion in Berlin, Jahrgang 1934, hat viele architektonische Besonderheiten, die man einer modernen Fußball-Arena niemals zugestehen würde. Zum Beispiel jenen Weg, über den Carlo Ancelotti den Innenraum verlassen musste. Der Rückzug erfolgt über eine breite Steintreppe, auf der die Gladiatoren ihren Fans, Funktionären und den Finsterlingen zuwinken können, ehe sie vom Bauch des Stadions verschluckt werden. Andernorts sichert ein Baldachin den Rückweg, in München geht am Rasenrand gar eine Klappe auf - in Berlin aber kommen oberhalb der Treppe, auf einer Art Empore, die Zuschauer sehr nah an die Hauptdarsteller heran.

So nah, dass diese angeblich von oben zielgenau Körperflüssigkeit absondern können, wie Ancelotti entschuldigend erklärte: "Ja, ich habe die Geste gemacht, weil ich angespuckt wurde."

Die Geste? Der Trainer des FC Bayern hat den Mittelfinger (ital.: dito medio) gezogen. Jenen Finger, der einen besonderen Platz in der deutschen Kulturgeschichte einnimmt, spätestens seit Stefan Effenberg vom Bundestrainer Berti Vogts von der WM 1994 nach Hause geschickt wurde. Die Geste wird auch dieses Mal von den Instanzen des Deutschen Fußball-Bundes begutachtet, der DFB-Kontrollausschuss soll Ancelotti zu einer Stellungnahme aufgefordert haben (bestätigte dies vorerst aber nicht).

Es könnte ein interessanter sportjuristisch-ethischer Fall werden, mit spezifischen Aspekten. Etwa jenem der Architektur: Gibt es mildernde Umstände dafür, dass das denkmalgeschützte Stadion ein Speien von oben erst möglich macht? So es ein solches denn gab; Hertha BSC erklärte am Sonntag, es gebe weder Bilder noch sonstige Belege für den Vorfall. Oder gibt es Strafmilderung dafür, dass Ancelotti beim DFB nicht Wiederholungstäter, sondern unbekannt ist? Oder dafür, dass nach finaler Zuspitzung die Nerven blank lagen?

"Wenn dir einer von oben auf den Kopf rotzt, dann findest du das nicht so interessant."

Während Ancelotti ging, rauften Spieler beider Teams noch im Rudel, weil sie den spätesten Treffer seit Beginn der Bundesliga-Datenerfassung kontrovers zu bewältigen versuchten. Jenen Ball, den Robert Lewandowski nach 95:59 Spielminuten zum 1:1-Ausgleich für den FC Bayern ins Hertha-Netz gedrückt hatte. In der sechsten Minute der Nachspielzeit, obwohl das Schiedsgericht zunächst auf der Tafel "5" Minuten signalisierte, was das Berliner Publikum eh schon in Rage gebracht hatte.

Mildernde Umstände ließen sich womöglich auch aus jener Aussage filtern, die Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer von Borussia Dortmund, im ZDF-Sportstudio tätigte: "Ich würde jetzt nicht den Stab über ihn brechen wollen. Wenn dir einer von oben auf den Kopf rotzt, dann findest du das nicht so interessant."

Zudem könnte ein Präzedenzfall vorliegen: Wegen eines Stinkefinger-Vergehens wurde Norbert Düwel 2014 als Trainer von Union Berlin zu einer Geldstrafe von 3500 Euro verurteilt.

Da außerdem vor dem Sportgericht immer auch die "Vorbildfunktion" verhandelt wird, ist noch etwas interessant: Wie wird etwas sanktioniert, das niemand im Stadion live gesehen hat? Das erst im Fernsehen zu bestaunen war? Eingefangen haben die Kameras Ancelottis Mittelfinger am Ende der Steintreppe, vor Betreten der Mixed-Zone, jenem Bereich, in dem die Interviews geführt werden. Ancelottis Finger zeigt von unten auf die Empore, dorthin, wo bei Hertha BSC die teuren Plätze sind.

Bayern-Spieler unterstellen Schauspielkunst

Auch die betuchte Kundschaft war in Rage, weil der Hamburger Schiedsrichter Patrick Ittrich spät wie selten abgepfiffen hatte. Die Münchner nutzten dies erneut zum Mentalitätsnachweis, seit der Winterpause präsentieren sie sich als Last- Second-Experten; in Freiburg (Lewandowski-Siegtreffer/91. Minute), in Ingolstadt (Vidal/90., Robben/91.) und in Berlin hatten sie einen langen Atem. Trotz der 5:1- Gala in der Champions League gegen den FC Arsenal nutzten sie ihre enorme Rest-Energie nicht nur zum Ausgleich, sondern kurz nach Abpfiff auch zu ironischen Spitzen gegen die Berliner. Während Hertha-Trainer Pal Dardai noch einen "Bayern- Bonus" beklagte, unterstellten die Münchner eine von Schauspielkunst getragene Verzögerungstaktik. Von Anfang an habe Hertha "nur Zeitspiel gemacht", monierte Thomas Müller: "Sie sollen sich mal anschauen, wie viele Krämpfe es ab der 50. Minute gab." Und Manuel Neuer meinte: "Die Mannschaft, die die englischen Wochen in den Knochen hatte, das war heute ja die Hertha, die lagen mit Krämpfen am Boden."

Trotzdem war die zweite FCB-Saisonniederlage fast schon besiegelt, ehe der Tabellenführer mit seiner erst zweiten Hertha-Prüfung - Torwart Jarstein musste sich zuvor nur bei einem Alaba-Freistoß strecken - doch noch das Remis erzwang. Ancelotti hatte nach einer Stunde mit einem Doppelwechsel (Alonso/Lewandowski für Kimmich/Vidal) signalisiert, dass man sich der Berliner Kampfkraft nicht ergeben wolle. Gefügt hat es sich dann aber doch erst im epischen Finale: Thiago schlägt einen Freistoß von der Strafraumkante, der Schuss des fahrlässig allein gelassenen Arjen Robben wird geblockt, Lewandowski trifft im Zweitversuch - und Ancelotti bekommt so sein unvergessliches Berlin-Erlebnis.

Erstmals überhaupt sei er in der Stadt gewesen, erklärte der 57-Jährige. Fürs Sightseeing sei keine Zeit gewesen, aber er werde sich den Tag "rot im Kalender anstreichen". Das werden andere auch tun, brachte dieser 18. Februar 2017 doch den untrüglichen Beweis dafür, dass dieser Trainer, der in der Liga bisweilen wie mumifiziert auf der Bank saß, wirklich lebt und bebt.

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