Favoriten bei der Fußball-EM:Spanien zeigt Demut

Favoriten bei der Fußball-EM: Immer noch dabei: Spaniens Andres Iniesta.

Immer noch dabei: Spaniens Andres Iniesta.

(Foto: AFP)

Bei der WM in Brasilien scheiterte Spanien an der eigenen Überheblichkeit - doch diesmal könnte der Plan von Trainer del Bosque aufgehen.

Kommentar von Javier Cáceres

Vor nicht allzu langer Zeit litten die Spanier noch unter Titelarmut. Die Klubs räumten zwar immer mal wieder Europapokale ab. Die Nationalelf aber blieb bei Turnieren zumeist unter den Erwartungen - und dermaßen oft im Viertelfinale großer Turniere hängen (zumeist gegen Frankreich), dass Spaniens Aus in der Runde der letzten Acht schon so etwas wie der Running Gag der Welt- und Europameisterschaften war.

Dann kam die EM 2008, die Wende: mit dem Sieg im Viertelfinale gegen Italien, der für Spaniens Psyche fast noch wichtiger war als der spätere 1:0-Finalsieg von Wien gegen Deutschland. 2010 folgte der WM-Sieg von Johannesburg, 2012 die EM-Titelverteidigung in Kiew. Sollte am 10. Juli in Paris ein weiterer EM-Finalsieg folgen, würde Spanien eine beispiellose Serie vervollkommnen. Noch nie hat ein europäisches Team einen Nationalteamtitel drei Mal nacheinander gewonnen.

Es wäre ein weiterer Beleg für eine unerhörte Dominanz. Seit der Jahrtausendwende haben die Spanier auf Klub- und Nationalmannschaftsebene 33 internationale Titel gewonnen. Das entspricht 40 Prozent der Turniere, die ausgetragen worden sind. Zudem haben die Spanier fast 50 Prozent aller Finals bestritten. Zum Vergleich: Weltmeister Deutschland kam im selben Zeitraum auf sechs Titel. Just da das Land die größte Wirtschaftsdepression der Nachkriegszeit durchleidet, hat Spanien auf dem grünen Rasen ein nahezu unangreifbares Imperium errichtet. Und alles begann im Stade de France - am 10. Juli Endspielort der jetzigen EM -, als Real Madrid gegen Valencia (3:0) die Champions League gewann

Das Team wurde gründlich erneuert

Madrids damaliger Trainer hieß Vicente del Bosque. Er ist seit 2008 der sanfte Kommandeur der Nationalelf - und straft seither Real Madrids Klub-Boss Florentino Pérez Lügen. Pérez hatte del Bosque bei Real Madrid abgesetzt, weil er einen Trainer wollte, der in der Kabine die Taktik auf einem Tablet erklärt - und nicht mit Kreide an der Tafel steht.

Bekanntlich ist das mit der Moderne im Fußball so eine Sache. Del Bosque ist mit einem zwar gründlich erneuerten, aber stilgetreuen Team nach Frankreich gereist. Mit Torwart Iker Casillas, Andrés Iniesta, Sergio Ramos, David Silva und Cesc Fábregas sind zwar noch fünf Finalteilnehmer von Wien 2008 dabei. Aber zehn Spieler haben noch kein Erwachsenen-Turnier hinter sich; in Lucas Vázquez von Real Madrid ist ein Spieler an Bord, der in der vergangenen Woche bei der Testspielpleite gegen Georgien (0:1) sein Länderspieldebüt feierte. Stürmer wie Morata und Nolito, der defensive Mittelfeldmann Bruno oder der nach Dortmund wechselnde Verteidiger Bartra stehen ebenfalls für den sanften Übergang, den del Bosque schon länger anstrebt.

Und der in Teilen schon vollzogen ist. Die Mittelfeldlenker Xabi Alonso (FC Bayern) und Xavi Hernández (Al Sadd/Qatar) quittierten ihren Dienst nach dem Aus bei der WM in Brasilien 2014. Dort scheiterten die Spanier in der Vorrunde, gegen die Niederlande setzte es gar ein schmähliches 1:5. Die Niederlage wirkt noch immer nach. Zweifel sind beharrliche Gesellen und werden von Debatten genährt - etwa zur Frage, ob del Bosque gut daran tat, Isco (Real Madrid) und Saúl Ñíguez (Atlético) daheim zu lassen. Oder ob Rekordnationalspieler Casillas im Tor noch ein Turnier durchhält. Die Spanier müssen die wohl stärkste Vorrundengruppe überstehen - gegen die Tschechische Republik, die Türkei und Kroatien. Doch wer sagt, dass Zweifel nicht produktiv sein können? Zumindest dürften sie ein Gegengift gegen die Überheblichkeit sein, die das titelberauschte Spanien in Brasilien scheitern ließ. Mit Spanien ist bei dieser EM unbedingt zu rechnen.

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