Fanforscher im Interview:"Schweigende Mehrheit wird langsam wach"

Fanforscher im Interview: Streithafte Nachbarn: die Fans von Hannover 96 und Eintracht Braunschweig.

Streithafte Nachbarn: die Fans von Hannover 96 und Eintracht Braunschweig.

(Foto: dpa)

Hannover 96 spielt gegen Eintracht Braunschweig, wegen der ausgeprägten Feindschaft der Fanlager erwarten viele das brisanteste Derby der Saison. Der Fanforscher Gunter A. Pilz erklärt im Interview mit SZ.de, weshalb er den Vergleich mit Dortmund gegen Schalke unverantwortlich findet - und was er von den normalen Fans erwartet.

Von Carsten Eberts

Gunter A. Pilz gehört zu den führenden Fanforschern in Deutschland. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Fankultur, 1985 gründete er in Hannover eines der ersten Fanprojekte. Heute leitet er die Kompetenzgruppe "Fankulturen und Sport bezogene soziale Arbeit" (KoFaS) an der Universität Hannover. Pilz wohnt und lehrt in Hannover, dort kommt es am Freitagabend zum vielleicht brisantesten Derby der Saison: Hannover 96 empfängt Eintracht Braunschweig, erstmals seit 37 Jahren in der Bundesliga. 20:30 Uhr, ein Flutlichtspiel.

SZ.de: Herr Pilz, in Niedersachen gibt es derzeit kein anderes Thema mehr: Hannover 96 gegen Eintracht Braunschweig. Die Fans gelten als verfeindet, das Duell gilt als äußerst brisant. Der Einsatzleiter der Polizei hat gesagt, Derbys wie Dortmund gegen Schalke seien "Kleinkram" dagegen. Stimmt das?

Gunter A. Pilz: Das war eine unbedachte und wenig hilfreiche Aussage. Wer sich vor Augen führt, was vor zwei Wochen bei Schalke 04 gegen Borussia Dortmund passiert ist und nun versucht, beide Derbys miteinander zu vergleichen, der zeichnet übelste Horrorszenarien.

Sie meinen die Angriffe von Dortmund-Fans auf den Schalker Fanblock. Nicht mit Gesängen, sondern mit Pyrotechnik.

In Dortmund haben die Fans gezeigt, dass Pyrotechnik nicht mehr ein Stilmittel und auch nicht mehr ein Mittel zur Eroberung des gegnerischen Stadions ist, sondern zu einem Mittel der Gewalt, zu einer Waffe umfunktioniert wurde. Das war eine neue Dimension.

Zwischen Hannover und Braunschweig liegen nur 55 Kilometer, die Rivalität der Fangruppen geht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Erstmals seit 37 Jahren treffen beide Klubs nun in der Bundesliga aufeinander. Wie groß ist das Gewaltpotenzial?

Jeder weiß um die Brisanz. Eine tradierte Feindschaft zwischen den Fangruppierungen, die sehr lange auf ein Aufeinandertreffen warten mussten. In den vergangenen Jahren haben die Ultragruppen beider Lager ebenfalls rivalisiert, aber nur, wenn die A-Jugend von Hannover 96 oder die zweite Mannschaft gegen Braunschweig spielte. Da gab es auch Auseinandersetzungen.

Nun warnt die Polizei vor Randale-Tourismus.

Man kann davon ausgehen, dass das Ereignis auch Fans anzieht, die nicht wegen des Fußballs kommen, sondern weil sie glauben, dass sie ihre Gewaltphantasien ausleben können. Wichtig wird sein, dass sich die überwiegende Zahl der besonnenen Fans von den wenigen gewaltbereiten Fans klar distanziert und sie aus der Anonymität herausholt.

Gute Fans, die böse Fans anzeigen? Das klingt fast zu einfach.

Es muss darum gehen, sich ganz klar von diesen zu distanzieren. In den vergangenen drei Wochen wurde sowohl in Braunschweig als auch in Hannover beobachtet, dass üble Schmähgesänge kleinerer Gruppen von den übrigen Stadionbesuchern niedergepfiffen worden sind. Das ist ein Zeichen, dass die Bemühungen zur Deeskalation fruchten. Die Sensibilität für das, was noch erlaubt oder erträglich ist und was nicht, wird größer. Viele Leute sagen, dass sie Gesänge über Tod und Hass nicht mehr akzeptieren.

Sind die normalen Zuschauer Ihre größte Hoffnung auf ein friedliches Derby?

Die schweigende Mehrheit wird langsam wach. Diejenigen, die aus falsch verstandener Solidarität schweigen oder Angst haben, als Nestbeschmutzer dazustehen, müssen etwas tun. Sie sind nun gefragt.

Ziemlich viel verlangt von einem Braunschweig-Fan, der zwar nicht zur Gewalt neigt, Hannover jedoch über alles hasst.

Niemand soll den Gegner lieben, die Rivalität macht den Reiz dieses Derbys aus. Aber bei aller Leidenschaft und Rivalität muss der Respekt gewahrt werden. Wenn es nicht gelingt, den Wenigen, die durch ihr Verhalten dem Fußball schaden, die glauben dass Stadion und Stadionumfeld ein rechtsfreier Raum sei, in dem sie ihre Gewaltphantasien ausleben können, das Handwerk zu legen, sie zur Vernunft zu bringen oder notfalls auch aus dem Stadion zu drängen - dann riskieren wir, dass die Repression zunimmt, dass ein ganz wichtiges Element für eine lebendige Fankultur abgeschafft wird, nämlich die Stehplätze. Jeder Fan muss sich Rechenschaft darüber ablegen, ob er durch sein Verhalten dieser Entwicklung Vorschub leisten will.

"Alle müssen mithelfen, auch die Fans"

Aber Problemfans sind häufig gewaltbereiter, schüchtern die übrigen Fans ringsherum ein.

Nehmen Sie den Dortmund-Block, die sogenannte Wand. Da stehen 20.000 Leute. Aber es waren 500, die sich darin chaotisch verhalten haben. Da frage ich mich: Was machen die 19.500?

Hoffen, dass nicht noch mehr passiert?

Die müssen dafür sorgen, dass die 500 bald nicht mehr im Stadion sind, wenn sie unbelehrbar sind und bleiben. Die lebendige Fankultur, um die wir in ganz Europa beneidet werden, wird von einem kleinen Haufen in Gefahr gebracht. Jetzt ist das Ende der Fahnenstange. Da reicht es nicht, wenn man meint, hier müssen Polizei und Ordnungsdienst aktiv werden.

Mit Sicherheitskontrollen und Stadionverboten ...

... klar ist es gut, bessere Videotechnik zu haben, mit der sogar Einzeltäter im Nachhinein überführt werden können. Aber alle müssen mithelfen, auch die Fans. Wer das nicht tut, darf sich nicht beklagen, wenn er in eine Gesamthaftung reinkommt.

Die Spieler von Hannover 96 haben einen offenen Brief verfasst, in dem sie die Fans zur Besonnenheit auffordern, Gewalt und Pyrotechnik verurteilen. Werden so nicht noch mehr gewaltbereite Fans auf das Ereignis aufmerksam gemacht?

Gewaltbereite Fans braucht man auf solche Ereignisse nicht aufmerksam machen. Ein Blick in die Internetforen genügt, um zu wissen, dass die Fans schon mobilisiert sind. Eigentlich seit klar ist, dass Eintracht Braunschweig aufsteigt, seit einem Dreivierteljahr. Wichtig ist, dass sich alle Seiten klar gegen Gewalt aussprechen. Wenn es im Stadion oder außerhalb zu Verunglimpfungen oder Gewalttaten kommt, müssen sich die normalen Fans eindeutig distanzieren.

Sie begrüßen den offenen Brief also?

Die Mannschaft von Hannover 96 zeigt, dass sie nicht bereit ist, die Gewalt mitzutragen. Falls es am Freitag doch Randale gibt, würde ich mir wünschen, dass die Spieler darauf verzichten, nach Spielende in die Kurve zu laufen, damit das Schreiben keine Showveranstaltung bleibt.

Was erwarten Sie von den Medien? Die Fernsehsender werden Bilder von brennenden Pyrofackeln zeigen, von Gewalt vor dem Stadion.

Wir können und müssen davon ausgehen, dass Heerscharen von Kamerateams und Journalisten kommen werden. Ich wünsche mir, dass nicht nur die negativen Dinge gezeigt werden. Wenn sie das nicht tun, dann handeln die Medien verantwortungslos und müssen damit leben, dass sie das sind, was ich einmal als "Schmieröl im Gewaltprozess" bezeichnet habe. Da geht es nicht nur um Informationspflicht, sondern auch um Informationsmoral. Auch die vielen positiven Dinge, die rund um das Spiel geschehen, müssen gezeigt werden. Das würde viel Druck vom Rückspiel in Braunschweig nehmen.

Werden Sie am Freitagabend im Stadion sein?

Natürlich, und auch am Nachmittag in der Stadt. Ich bin eigentlich Fan vom FC Bayern, seit meinem Soziologiestudium in München, da sind die Bayern gerade aufgestiegen. Aber ich habe 1985 in Hannover ein Fanprojekt gegründet, das ich seitdem begleite. Ich bin dem Verein eng verbunden und deshalb fiebere ich auch mit und für Hannover 96.

Ihr Wunsch fürs Spiel?

Ich wünsche mir nichts mehr, als dass es ein Spiel voller Emotionen und Leidenschaft wird, aber ohne Pyrotechnik und Gewalt. Und ich wünsche mir, das sei mir erlaubt, dass Hannover gewinnt.

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