Fan-Experte kritisiert Politik und Klubs:"Populistische Nebelkerzen"

Michael Gabriel ist vor dieser Bundesliga-Saison sehr beeunruhigt. Der Leiter der bundesweiten Koordinationsstelle Fanprojekte fürchtet, dass die Schritte gegen Fan-Randale, die Innenminister, Fußballverbände und Klubs angekündigt haben, die Probleme verschlimmern werden. Vor allem die Drohung, Stehplätze abzubauen, wirke fatal.

Interview: Thomas Hummel

Michael Gabriel, 48, begann 1992 seine Arbeit im Frankfurter Fanprojekt, seit 2006 leitet er die Koordinationsstelle Fanprojekte (Kos), die 51 lokale Fanprojekte in Deutschland begleitet. Nach den teils gewalttätigen Vorfällen in der vergangenen Saison und der Debatte um Pyrotechnik im Stadion haben nun die Innenminister mit DFB, DFL und den Vereinen einen Maßnahmenkatalog beschlossen, um Randale künftig zu verhindern. Doch wer Michael Gabriel kurz vor der Saison trifft, spricht mit einem beunruhigten Mann.

Hertha Berlin players react to flares thrown by their supporters onto the field during their German Bundesliga first division relegation soccer match against Fortuna Duesseldorf in Duesseldorf

"Was Sorgen bereiten muss, ist die gestiegene Bereitschaft, dem eigenen Verein zu schaden", sagt Michael Gabriel. Zu sehen im Relegationsspiel in Düsseldorf, wo Anhänger von Hertha BSC einen Spielabbruch provozieren wollten. 

(Foto: Reuters)

SZ.de: Herr Gabriel, warum sind Sie so nervös?

Michael Gabriel: Ich bin seit 20 Jahren in der Fan-Thematik, aber solche Bauchschmerzen hatte ich noch nie. Wir beobachten im Moment eine fatale Dynamik und ich sehe derzeit nicht, wie man die noch aufhalten kann.

SZ.de: Welche Dynamik?

Gabriel: Ständig neue Vorschläge durch die Hardliner auf Seiten der Innenminister haben die Fronten zwischen Fans auf der einen Seite und Vereinen, Verbänden, Polizei und Politik auf der anderen weiter verhärtet. Die Debatte ist voll auf Konfrontation ausgerichtet. Viele meiner Kollegen, die an der Basis arbeiten, sorgen sich, dass der Streit eskaliert.

SZ.de: Was kritisieren Sie an den Beschlüssen der Innenminister mit Verbänden und Klubs?

Gabriel: Erstens wurde wieder einmal nicht mit, sondern über Fußballfans gesprochen. Expertenwissen wurde ignoriert. Gleichzeitig stehlen sich die Vereine zunehmend aus der Verantwortung. Der von Theo Zwanziger (Ex-DFB-Präsident, Anm. d. Red.) initiierte Dialog mit den Fans ist zum Stillstand gekommen, was auch in den Kurven die radikalen Kräfte stärkt. Und es führt offensichtlich dazu, dass die Maßnahmen immer absurder werden und an der Problemlage vorbeiführen. Vieles sind populistische Nebelkerzen, die nicht helfen, das Problem zu lösen.

SZ.de: Die Innenminister als Pyrotechniker?

Gabriel: Nehmen Sie die Forderung, die Videoüberwachung im Stadion zu optimieren. Die ist spätestens seit der WM 2006 sowieso auf dem neuesten Stand. Außerdem muss die Polizei deren Funktionalität im Rahmen der DFL-Lizenzierung jedes Jahr neu bestätigen. Alle Klubs haben die Lizenz bekommen. Wo ist da also das Problem?

SZ.de: Stadionverbote sollen besser durchgesetzt werden. Hört sich gut an.

Gabriel: Hier wird ein Sachverhalt behauptet, der nicht belegt ist. Ich habe in der Praxis von der Polizei noch keine Beschwerde gehört, dass Verbote durch die Vereine nicht durchgesetzt werden. Im Gegenteil gibt es zunehmend kritische Stimmen in der Polizei, weil eine weitere Sicherheitslage außerhalb der Stadien entstanden ist. Die ausgesperrten Fans wollen bei ihren Gruppen bleiben und fahren auswärts mit, dürfen dort aber nicht ins Stadion. Außerhalb stellen sie aus polizeilicher Sicht ein Risikopotenzial dar, wofür zusätzliche Beamte abgestellt werden müssen.

"Entweder ihr pariert, oder es kommt der Rohrstock"

SZ.de: Die Stadionverbote stehen bei Fans ohnehin stark in der Kritik. Jetzt sollen sie von drei auf zehn Jahre verlängert werden. Ist es nicht richtig, Randalierer auszusperren?

Gabriel: Niemand bestreitet ernsthaft, dass die Klubs das Recht haben, gefährliche Leute auszuschließen. Aber die Fans erwarten, dass es dabei gerecht zugeht. In den Richtlinien ist aber die Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt, und die wenigsten Vereine machen sich überhaupt die Mühe, die Betroffenen anzuhören. In der Regel ist es so: Die Polizei schlägt vor, der Verein unterschreibt. Dieses anonyme und als unfair empfundene Verfahren widerspricht dem Gerechtigkeitsempfinden der jungen Menschen fundamental, was aus unserer pädagogischen Sicht fatal ist. Aber aktuell treibt mich etwas fast noch stärker um.

SZ.de: Das wäre?

Gabriel: Was mich am meisten besorgt, ist die in der Fanszene so empfundene Drohung: Wenn noch mal was passiert, werden wir die Stehplätze abbauen. Denn das wird in der gesamten Fanszene als Generalangriff und als bedrohliches Damokles-Schwert empfunden: Entweder ihr pariert, oder es kommt der Rohrstock.

SZ.de: Sie fürchten ernsthaft um die Stehplätze in deutschen Fußballstadien?

Gabriel: Vor kurzem hatte ich gedacht: Fußball in Deutschland ohne Stehplätze ist unvorstellbar, aber aktuell bin ich mir durch die politische Dynamik nicht mehr so sicher. Unter den Fans glauben viele, das Ende ihrer Fankultur sei nah. Die Radikalen innerhalb der Ultras haben aktuell wohl Oberwasser im Sinne von: "Wenn wir schon untergehen, dann aber mit fliegenden Fahnen." Es gibt für sie subjektiv immer weniger Veranlassung, Rücksicht zu nehmen.

SZ.de: Wie laut und stark sind diese Stimmen? Wie groß schätzen Sie die Gefahr schlimmer Randale ein?

Gabriel: Das kann keiner sagen, aber viele meiner Kollegen sind beunruhigt. Wir dürfen nicht naiv sein, die vorgegebene harte Linie der Innenminister kann natürlich Einfluss auf die Polizei vor Ort haben, was die Spannungen auch erhöhen kann.

SZ.de: Es gibt viele friedvolle Fans in den Kurven. Wo ist deren Einfluss?

Gabriel: Zwischen den verschiedenen Fangruppen gibt es teils große Konflikte, insbesondere mit den Ultras, aber die werden durch die Vorschläge der Politik und der Fußballverbände zugeschüttet. Die naive Vorstellung ist ja: Wenn es um die Stehplätze geht, lassen die das mit den Bengalos. Aber das ist Jugendkultur, und Jugendkultur ist auch Protestkultur.

"Konflikte sind bei weitem nicht so groß wie in anderen Ländern"

SZ.de: Wie könnte eine Lösung aussehen, wie kriegt man Gewalt aus dem Fußball?

Gabriel: Zunächst einmal muss man sagen, dass es in Deutschland sicher und äußerst attraktiv ist, ins Stadion zu gehen. Auch weil die Fanprojekte geholfen haben, einen Ausgleich zwischen den Interessen des Kommerzes, der Sicherheit und der Fans zu organisieren. Die Konflikte sind bei weitem nicht so groß wie in anderen Ländern. Die Zuschauerzahlen sind hoch, auch weil die Rahmenbedingungen für Fußballfans gut sind. Nur in Deutschland muss ein Profiklub einen hauptamtlichen Fanbeauftragen einstellen. In der Regel herrscht eine gute Arbeitsebene mit der Polizei. Aber diese funktionierende Basis wird nun von den Beschlüssen von oben gefährdet.

SZ.de: Dennoch bleibt der Eindruck aus dem vergangenen Jahr: Randale nimmt zu.

Gabriel: Die Zahl der Vorfälle steigt im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung nicht an. Was aber Sorgen bereiten muss, ist die gestiegene Bereitschaft, dem eigenen Verein zu schaden. Das gründet auf einer gewissen Selbstüberhöhung in Teilen der Fanszene, insbesondere bei den Ultras: "Wir sind der Verein." In der Analyse müsste man dementsprechend feststellen, dass beim Relegationsspiel in Düsseldorf nicht der Platzsturm der Zuschauer das Problem war, sondern die Bereitschaft der Berliner Ultras, mittels Werfen von Bengalos einen Spielabbruch zu provozieren.

SZ.de: Wie kann man diese Entwicklung aufhalten?

Gabriel: Von zentraler Bedeutung ist das Verhältnis des Vereins zu seiner Fanszene. Aber nahezu alle Vereine unterschätzen das Thema seit Jahren eklatant. Sie haben leider bis heute nicht verstanden, worum es im Grunde geht. Die Fans, insbesondere die jungen, wollen für all das, was sie dem Verein geben, ernst genommen und eingebunden werden - und nicht mit Autogrammkarten von Spielern, die nächste Saison wahrscheinlich wieder weg sind, abgespeist werden. Verkürzt gesagt müssten die Vereine genauso viel Zeit in den Dialog mit ihrer Kurve stecken, wie in die Betreuung der Sponsoren und der VIPs. Vielleicht kommt dann ja die Erkenntnis, wie viel Potenzial zum Nutzen des Vereins in der Fankultur steckt. Nur ein Beispiel: Die Fans von Union Berlin haben - übertrieben formuliert - quasi kostenlos ihrem Verein ein neues Stadion hingestellt. Das jedoch nur, weil der Verein sich seit Jahren ernsthaft um seine Fans kümmert.

SZ.de: Bei manchen wird das nichts nutzen, da muss dann doch die Polizei ran ...

Gabriel: Auch da besteht kein Zweifel, aber auch die Polizei hat eine Verantwortung. Es existieren seit der EM 2004 mehrere wissenschaftliche Untersuchungen, die alle belegen: Je zurückhaltender und kommunikativer die Polizei auftritt, je größer das Wissen und der Respekt gegenüber der Fankultur, desto weniger Gewaltvorfälle. In Hannover etwa setzte die Polizei in den vergangenen Jahren ein darauf basierendes Konzept um. Ergebnis: weniger Vorfälle, weniger Festnahmen, weniger Verletzte und weniger eingesetzte Polizeibeamte.

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