Extremsport:Fliegen, bis die Socken qualmen

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Nur mit Gleitschirm und Bergschuhen vom Dachstein-Gletscher quer durch die Alpen bis nach Monaco, 850 Kilometer Luftlinie. Klingt verrückt, ist es wohl auch. Vorab-Besuch bei einem Teilnehmer der Redbull-X-Alps.

Thomas Becker

Sein Geheimnis steckt in den Socken. Alten, ungewaschenen Socken. Dabei sieht dieser drahtige Bursche mit seinen dunklen Locken doch sehr smart und adrett aus. So überhaupt nicht ungewaschen. Es ist auch nur eine ganz bestimmte Zeit im Jahr, in der bei Michi Gebert die Körperpflege zwangsweise etwas zu kurz kommt: während der gut zwei Wochen der Red Bull X-Alps, des härtesten Wettkampfs, den man sich als Paraglider antun kann.

Der findet zum dritten Mal statt, begann am 23. Juli und geht so: Nur mit einem Gleitschirm auf dem Rücken laufen und fliegen die Athleten vom Dachstein-Gletscher in Österreich quer durch die Alpen bis nach Monaco. Michi sagt: "Das Rennen schlechthin in der Szene, tausend Mal interessanter als die WM."

Kein anderes Transportmittel ist erlaubt. Ein Begleiter sorgt vom Auto aus für Verpflegung und Nachtquartier. Tunnel sind tabu: ab über den Berg, zu Fuß. Oben angekommen kann man nur hoffen, dass die Thermik stimmt und Fliegen überhaupt möglich ist. Sonst heißt es: auch bergab laufen. Luftlinie sind es 850 Kilometer bis Monte Carlo.

Am Ende werden die Jungs mehr als 1000 Kilometer in den Beinen und auf den Socken haben. Und wer da auf frisch gewaschene Socken verzichtet ("Die sind einfach zu rau am Fuß", erklärt Michi) und weder Lust auf ausgefallene Zehennägel noch auf die zehnte Blase auf der ersten Blase hat, der ist schon mal fein raus. So wie Michi Gebert.

Natürlich ist es mit dem Socken-Trick nicht getan. Es gehört schon mehr dazu, um diese Tortur zu überstehen: Hirschtalg und Vaseline. Muss auch auf die Füße. Aber nein, das sind alles Kleinigkeiten. Was wirklich zählt, sind Fitness, fliegerisches Können, die Fähigkeit, das Wetter richtig einzuschätzen und vor allem die Willenskraft, all diese Strapazen anzugehen und durchzustehen.

Zwar gibt es Preisgeld zu gewinnen, aber deswegen macht sich keiner der 30 Sportler auf den langen Weg. Es ist vielmehr der Traum vom Fliegen. Klingt platt, aber wer Menschen wie Michi Gebert eine Weile zuhört und zusieht bei seinem Job, der auch seine Leidenschaft ist, der merkt schnell, dass an dem Spruch viel dran ist.

Gebert ist 27, stammt aus dem Allgäu, arbeitet in Obermaiselstein als Freiberufler in einer Flugschule. Meist segelt er im Tandem mit einem Gast vom Nebelhorn runter nach Oberstdorf. Seine Lieblingsstrecke. "Am schönsten ist es bei Vollmond", schwärmt er, "ist zwar verboten, macht aber nix." Diesen Satz sagt er öfter. Eigentlich begann seine ganze Flugkarriere so: ein bisschen illegal.

Mit 15 hat er genug von den ewigen Langlaufrennen und will Drachen fliegen. Er schnappt sich ein ausrangiertes Teil und probiert rum. Erlaubt ist das nur mit Schein, und den gibt's frühestens mit 16. Egal. Zwar donnert er einmal ungebremst in eine alte Scheune, doch die Begeisterung bleibt. Gebert fliegt bei deutschen Wettkämpfen mit, auch bei Weltmeisterschaften. Doch das langweilt ihn mit der Zeit. Die Wettkämpfe sind immer gleich: Strecken fliegen, Dreieickskurse. Paragliden kommt nun bei Michi hinzu, Akro-Fliegen auch (was in Deutschland verboten ist - eigentlich).

Die Meisterschaften werden dagegen immer weniger: "Ich will lieber selbst entscheiden, wann ich wohin fliege. Viel wichtiger als eine Medaille ist ein Erlebnis, ein besonderer Flug, an den ich mich lange erinnern kann." Als Gebert vor zwei Jahren zum ersten Mal beim X-Alps mitmachte, wusste er noch nicht, dass dieser Wettbewerb ihm jeden Tag ein solches Erlebnis bescheren würde.

2004 nahm er an einem ähnlichen Rennen teil, der Para Bavaria: von Oberstaufen nach Bad Reichenhall, immer an der Alpennordseite entlang. Gebert gewann - und wurde prompt von Red Bull für die X-Alps eingeladen. "Zuerst war das schon komisch mit all den Paraglide-Profis, aber dann lief es sooo prima bei mir", erzählt er.

In der ersten Woche lag er sensationell auf Platz zwei, erwischte jede Thermik perfekt, lief bei Schlechtwetter wie ein Uhrwerk und musste erst im Engadin die Konkurrenz vorbeifliegen lassen, die dort ihren Heimvorteil ausspielte. Während die Schweizer - später auf den Rängen eins bis drei - jedes Tal, jeden Berg und jedes Lüftchen kannten, begann für Michi Gebert absolutes Neuland: der Flug ins Ungewisse.

Am Schluss wurde er Fünfter, doch die Krönung des Wettkampfs blieb ihm verwehrt: der letzte Flug von der Steilküste über Monaco runter zum Strand, ins Meer. Sobald der Sieger im Ziel ist, tickt die Uhr: 48 Stunden später ist das Rennen vorbei, egal, wer gerade wo steckt. Michi erinnert sich: "Ich stand auf 3500 Metern, irgendwo in den Seealpen, einen halben Tag entfernt von Monaco." Nur drei Mann schafften es bis ans Meer - und das ist auch diesmal das Ziel von Gebert: "In Monaco ankommen. Egal, ob als Erster oder Fünfter."

Es wird schwieriger werden. "Wir müssen drei Mal den Alpenhauptkamm queren", erklärt Gebert. Kontrollpunkte sind nach dem Dachstein-Gletscher der Gipfel der Marmolada in den Dolomiten, der Eiger im Berner Oberland, der Mont Blanc bei Chamonix und der Mont Gros kurz vorm Ziel. "Schon in den Dolomiten wird es krass", fürchtet Gebert, "da hat es im Sommer extrem starke Thermik und Gewitter."

Auch bei den letzten X-Alps hatte es das Wetter nicht gut gemeint mit den Fliegern. "In den zwei Wochen waren vielleicht zwei oder drei Tage dabei, an denen man von Flugwetter sprechen konnte", sagt Gebert, "der Rest: an der Grenze. Und drüber. Wir hatten total viel Regen, dazu zwei Schneestürme - mitten im Sommer. Zwischendrin gab's Fön und in Frankreich auch noch diesen Höllenwind von Mistral. Zwei Mal bin ich gar nicht geflogen: Da kam der Wind aus der falschen Richtung. Aber ich war dann zu Fuß doch schneller als die Kollegen, die es mit Fliegen versucht haben." 80 Kilometer ist er an diesem Tag gelaufen. Mit 15 Kilo auf dem Buckel. 19 Stunden am Stück. Bergauf, bergab. "Danach bist du so fertig, da denkst du gar nicht mehr ans Duschen."

Außer essen und den nächsten Tag planen, wartet noch eine andere Aufgabe auf ihn: Für die Homepage des Rennens müssen die Athleten alle zwei Tage ein zehnminütiges Video drehen und zudem ein Tagebuch führen. "Einmal bin ich im Schlafsack beim SMS-Tippen eingeschlafen und mit Handy in der Hand aufgewacht.

Der Schlafmangel ist auf Dauer das größte Problem." Manchmal ist er erst um drei ins Bett, meist aber zwischen vier und sechs morgens aufgestanden und mit der Stirnlampe auf dem Kopf schon mal losgelaufen - fliegen ist laut Reglement erst ab 6 Uhr erlaubt. "Oft ist aber erst ab Mittag überhaupt Thermik." Man muss also auch noch taktisch schlafen.

Was Gebert auf jeden Fall verbessern will: das Verhältnis von geflogenen zu gelaufenen Kilometern. 2005 flog er 40 Prozent und rannte 60 Prozent - was ihm als 70-Kilo-Leichtgewicht zwar nicht so schwer fiel wie anderen, aber doch zu viel war. Der Sieger lief nur 45 Prozent. "Manchmal war der Frust über die ewige Rennerei schon groß. Da nutzt dir auch der heftigste Hardrock auf dem iPod nix mehr. Auf der Straße laufen, ist am schlimmsten. Da brennen dir echt die Schuhsohlen. In Innsbruck hat mich eine alte Frau auf dem Zebrastreifen angehupt. Da fragst du dich schon: Was machst du hier eigentlich? Aber dann rennst du doch wieder bis nachts um drei."

Morgens tat zwar immer alles weh, aber so etwas wie Muskelkater hat Gebert nicht wirklich gespürt. Sein Training klingt total unspektakulär: "Joggen mag ich nicht so. Ich würd's zügig marschieren nennen, meistens mit Gewicht." Und ob das zügig ist: Nur anderthalb Stunden braucht er für die 1400 Höhenmeter aufs Nebelhorn. Im Winter geht er Skitouren und zum Speedflying. "Du carvst mit einem kleinen Kitedrachen, springst über Felsen. Und wirst verdammt schnell: 80 Sachen." Klingt mal wieder ziemlich verboten.

Zum Fliegen ist er das ganze Jahr über unterwegs: Island, Portugal, Norwegen, Costa Rica, ganz oft Brasilien, wo er jetzt mit dem Wellenreiten angefangen hat. Nur mit Klettern hat er es überhaupt nicht. "Nö, ist nicht mein Ding, so am Seil hängen ..." Sagt ausgerechnet der Mensch, der sich mindestens zwei Wochen lang bei Wind und Wetter an einem silikonbeschichteten Stückchen Nylon quer durch die Alpen hangeln will. Und der nur vier paar Socken im Gepäck hat. Wahrscheinlich alte, ungewaschene.

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