Experte:"Für Auswärtsspiele wird Schule geschwänzt"

Fan-Experte Michael Gabriel über zunehmende Gewalt beim Fußball, warum Jugendliche zu Ultras werden - und was geschehen muss.

Interview: T. Hummel

Der deutsche Fußball debattiert über Fan-Gewalt, Politik und Polizei fordern ein hartes Eingreifen. Doch woher kommt die Gewalt? Was passiert in den Kurven? Sind die Ultras der Grund allen Übels? Michael Gabriel, 46, leitet die Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS). Sie wird vom Bund und dem DFB finanziert, ist bei der Deutschen Sportjugend angesiedelt und berät im Rahmen des Nationalen Konzepts Sport und Sicherheit (NKSS) die Fan-Projekte in Deutschland.

Fans Fangewalt ddp

Feuerwerk im Stadion: Junge Fans reagieren zunehmend mit Gewalt.

(Foto: Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Sind die Aktionen in Stuttgart und Nürnberg, wo die Klub-Geschäftsstellen angegriffen und letztlich Trainer zu Fall gebracht wurden, eine neue Dimension des Protests?

Gabriel: Über Fanproteste wurde immer schon Druck auf Vereine ausgeübt. Die Vehemenz des Protests ist aber sicher neu. Da werden eindeutig Grenzen überschritten.

sueddeutsche.de: In Stuttgart waren Beteiligte wie Trainer Babbel geschockt.

Gabriel: Völlig zurecht. Vor zwei Jahren war der VfB Stuttgart noch Deutscher Meister, jetzt spielt er in der Champions League. In ganz kurzer Zeit kippt da die Stimmung von Zuneigung in absolute Verachtung. Das ist neu und ein Beleg dafür, dass das Verhältnis zwischen Spielern, Trainern, Vereinen auf der einen Seite und den Leuten in der Kurve auf der anderen immer instrumenteller wird.

sueddeutsche.de: Was meinen Sie damit?

Gabriel: Die auf den Rängen erwarten, dass die auf dem Platz gefälligst Ergebnisse abliefern, den Stadionbesuch zum Event machen. Umgekehrt erwarten die Spieler, dass die Fans sie immer anfeuern. Letztendlich interessieren sich Profis und Vereinsvertreter meistens nicht die Bohne für die Menschen in der Kurve.

sueddeutsche.de: Dieses Desinteresse ist aber nicht neu.

Gabriel: Aber trotzdem falsch. Die Fans reagieren darauf, indem sie sich immer weniger für das Spiel interessieren.

sueddeutsche.de: Warum gehen sie dann ins Stadion?

Gabriel: Immer mehr um ihre eigene Party zu feiern.

sueddeutsche.de: Das betrifft vor allem die sogenannten Ultras. Sind diese Gruppen der Grund allen Übels?

Gabriel: Man darf die Vorgänge in Stuttgart oder Nürnberg nicht den Ultras alleine zuschreiben. Sie sind vielleicht die Avantgarde für eine tiefergehende Entwicklung. Denn die Proteste wie auch bei Eintracht Frankfurt oder in Bochum wurden von viel mehr Zuschauern getragen.

sueddeutsche.de: Sie haben den Eindruck, man schiebt die Ultras gerne vor?

Gabriel: Die Ultras sind die Sichtbarsten, im positiven Sinne durch ihre Präsenz in den Kurven. Und im negativen Sinne: Sie gehen am weitesten in ihren Forderungen und Drohungen.

sueddeutsche.de: In dem bundesweiten Ultra-Heft Blickfang Ultra erschrickt man bisweilen über die Verherrlichung der Gewalt.

Gabriel: Zurecht, und diese breite Akzeptanz bereitet uns Sorgen. Große Teile der Fanszene tolerieren ein Verhalten, dass mit positiver Fankultur nichts mehr zu tun hat: Schals klauen, Fahnen klauen, andere Gruppen oder Fan-Treffs angreifen - da machen viel zu viele Leute mit. Vor allem in der Ultra-Szene. Wenn Rainer Koch (Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bundes, Anm. d. Red.) sagt, dass Woche für Woche schwere Straftaten begangen werden, dann kann man dem kaum widersprechen.

sueddeutsche.de: Warum schützen die Fangruppen Straftäter in ihren Reihen und distanzieren sich nicht von ihnen?

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die gewaltbereiten Fans Unterstützung finden.

Die zwei Feinde der Fans

Gabriel: Der Druck von außen auf die Fanszene ist groß. Alle verorten den gemeinsamen Feind außen, weshalb die Bereitschaft, sich selbst kritisch zu hinterfragen, nicht sehr ausgeprägt ist. Einige sprechen es an, werden aber immer weniger gehört.

Experte: Michael Gabriel, 46, leitet die Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS). Von Vereinen, Politik und Polizei fordert er: "offen in die Gespräche reingehen und den Fans zuhören."

Michael Gabriel, 46, leitet die Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS). Von Vereinen, Politik und Polizei fordert er: "offen in die Gespräche reingehen und den Fans zuhören."

(Foto: Foto: Ingo Thiel)

sueddeutsche.de: Welcher Feind?

Gabriel: Die Fankultur sieht sich von zwei Seiten bedroht: Erstens durch die Kommerzialisierung des Fußballs. Die TV-Vermarktung steht an erster Stelle, dann kommen die Logen, die Business-Seats, die Bandenwerbung etc. Die Interessen der Stadionbesucher, der Fans , die dem Spiel die Emotionen geben, fallen zunehmend hinten runter.

sueddeutsche.de: Was wollen die Fans von den Klubs?

Gabriel: Ernst genommen werden und zuverlässige, authentische Kommunikation. Der Verein soll sich für die Menschen in der Kurve interessieren. In den Choreografien der Ultras etwa steckt viel Arbeit, Zeit, Liebe drin - das ist eine unglaubliche Leistung. Die Klubs haben das bis heute nicht verstanden. Warum geht kein Klub-Vorsitzender zu den Ultras und bedankt sich für deren Engagement, erkundigt sich, wie das gemacht wurde, was da für ein Aufwand drinsteckt? Dann würde er in der Fanszene auch ernst genommen werden.

sueddeutsche.de: Als zweiter Gegner bleibt vermutlich die Polizei.

Gabriel: Würden sich Klubvertreter mit der Lebenswelt der Fans auseinandersetzen, würde sie erkennen, welch enormer Druck von der Polizei auf die Szene wirkt und was das auslöst. Sie würden sehen, dass es bei Randalen meist nicht nur eine Wahrheit gibt, die in der Regel die Polizei über Pressemitteilungen an die Öffentlichkeit kommuniziert. Auch die Polizei kann Fehler machen und überzogen vorgehen. Klubvertreter würden realisieren, dass sie sich dann vor ihre Fans stellen müssen.

sueddeutsche.de: Das passiert aber nicht.

Gabriel: Und deshalb werden diejenigen in der Fankurve bestätigt, die dafür stehen, dass man sich wehren muss gegen Polizei und Ordnungsdienst. Es werden nicht die positiven Kräfte der Fankultur unterstützt.

sueddeutsche.de: Es scheint schwierig für Vereine, der Polizei zu widersprechen.

Gabriel: Viel wichtiger ist, dass die Vereine nach Vorfällen auch die Version der Fans anhören. Als Eintracht Frankfurt in der vergangenen Saison in Bremen spielte, wurden direkt nach der Ankunft und ohne dass eine Straftat begangen worden wäre, 260 Fans in Gewahrsam genommen. Da hat die Eintracht zu ihren Fans gehalten, die Unverhältnismäßigkeit des Einsatzes war einfach zu offensichtlich. Die Fans haben das begrüßt und wertgeschätzt.

sueddeutsche.de: Innenminister Thomas de Maizière fordert harte Maßnahmen gegen die Gewalt rund um den Fußball.

Gabriel: In vielen Aussagen aus Politik und Vereinen wird eine ganz große Hilflosigkeit deutlich. Dort versteht man das Phänomen der Fankultur nicht, weshalb man dazu neigt, einfache Lösungen zu fordern. Die Ergebnisse aus der Innenministerkonferenz haben uns schon überrascht, weil wir dachten, die Politik sei weiter. Der Vorschlag, die Tickets zu personalisieren wie bei der WM 2006 passt überhaupt nicht zur Lage. Es gibt keine Probleme in den Stadien, sondern außerhalb.

sueddeutsche.de: Was kann man da unternehmen?

Gabriel: Erstens erleben wir keine überraschende Entwicklung, sondern die Situation hat sich seit längerem entwickelt. Mit Schnellschüssen wird man da nichts lösen. Repressive Maßnahmen verschärfen die Situation, weil das Wasser auf die Mühlen der Gewaltbereiten ist.

sueddeutsche.de: Haben Sie die Entwicklung erwartet?

Gabriel: Die Fanprojekte warnen schon seit vielen Jahren. Der Verdruss unter den Fans staut sich seit längerem auf. Zum Beispiel beim Thema Stadionverbote: Wenn Vereine auf Vorschlag der Polizei ein bundesweites Verbot aussprachen, gaben sie den Fans lange Zeit nicht einmal die Möglichkeit, sich zu den Vorfällen zu äußern. Unter den Fans war bekannt, dass an einigen Orten vom Verein blanko unterschriebene Stadionverbots-Formulare bei der Polizei in der Schublade lagen und die Beamten nur noch den Namen eintragen mussten. Einmal schlug die Berliner Polizei nach einer Auseinandersetzung zwischen zwei Personen 21 Fans für Stadionverbote vor. Als Union Berlin damals die Leute anhörte, musste der Klub feststellen, dass einige Personen nicht mal beim Spiel waren. Die Vereine müssen verstehen, was Stadionverbote für junge Menschen bedeuten, damit muss man sehr sorgfältig umgehen.

sueddeutsche.de: Was bedeutet ein Stadionverbot?

Lesen Sie weiter auf Seite 3, warum Jugendliche ihr Leben dem Fan-Sein unterordnen.

Positivbeispiel Hannover

Gabriel: Die Zugehörigkeit zur Gruppe ist bei Jugendszenen wie den Ultras enorm wichtig. Die Fanprojekte haben bisweilen Probleme, den jungen Leuten zu vermitteln, dass Schule, Berufsausbildung, Familie wichtiger sind als das Fan-Sein. Da wird Schule geschwänzt, um zu einem Auswärtsspiel zu fahren. Wenn einer aus der Gruppe rausgerissen wird, ohne dass der Verein sich für deine Version interessiert, ist das ein sehr kalter Umgang.

sueddeutsche.de: Schule schwänzen für ein Auswärtsspiel? Wie kommt es, dass Fan-Sein so wichtig ist?

Gabriel: Es füllt viele Leerstellen in der Gesellschaft. Instanzen des Zusammenlebens wie Familie, Schule oder Arbeitswelt werden porös. Es wird z.B. als selbstverständlich erachtet, dass sich 16-Jährige bundesweit bewerben, um eine Chance auf einen Ausbildungsplatz zu haben. Ultra- oder Fangruppen bieten hier eine Heimat: Hier werden die Jugendlichen akzeptiert und anerkannt, hier können sie sich einbringen, die Herkunft ist unbedeutend, es herrscht großer Zusammenhalt. Die Gesellschaft wertet nahezu alles nach Leistung und Nutzen, die Fankultur bietet da attraktivere Angebote.

sueddeutsche.de: Was aber nicht zu Gewalt führen müsste.

Gabriel: Natürlich nicht, aber junge Menschen wollen von der Gesellschaft wahrgenommen werden. Selbst wenn positives Engagement ignoriert wird - Gewalt funktioniert immer.

sueddeutsche.de: Was haben Sie nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes erlebt, in dem die bisherige Praxis der Stadionverbote bestätigt wurde?

Gabriel: Aus pädagogischer Sicht war das fatal. Die Fanprojekte versuchen, den Jugendlichen Regeln der Gesellschaft nahezubringen. Eine Grundlage unseres Rechtsverständnisses ist, dass jemand so lange als unschuldig gilt, bis er verurteilt wird. Diese Grundlage wird bei der Verhängung von Stadionverboten ohne nachgewiesene Straftaten, nur weil man zu einer als gewaltbereit bezeichneten Gruppen gezählt wird, ausgehölt. Wir haben große Probleme, den jungen Leuten das zu erklären.

sueddeutsche.de: Wohin entwickelt sich die Ultra-Bewegung?

Gabriel: Das hängt stark vom Verhalten der Vereine, der Politik, der Polizei ab. Wir spüren in den meisten Ultra-Gruppen noch den Willen zum Dialog. Nur wenige haben sich abgeschottet. Aber man muss auch offen in die Gespräche reingehen und den Fans zuhören. Ein positives Beispiel: In Hannover setzt die Polizei auf ein ganz hervorragendes Konzept: Weniger repressiv und eng, damit gibt die Polizei den Fans eine größere Verantwortung für das eigene Verhalten. Das klappt ganz gut.

sueddeutsche.de: Neben Freiburg, Hoffenheim hat nur Stuttgart in der Bundesliga kein Fanprojekt. Angesichts der jüngsten Ereignisse kein gutes Zeichen.

Gabriel: Aus den Fanszenen beider Stuttgarter Vereine kommen seit langem Anfragen: Wir brauchen ein Fanprojekt, weil uns der Verein nicht richtig zuhört, weil die Polizei nicht richtig zuhört, wir sind mit unseren Sorgen alleine. Ich habe selten einen Ort erlebt, wo die Bedingungen so gut sind: gut organisierte und gesprächsbereite Fangruppen, VfB und Kickers fordern ein Fanprojekt, das Land Baden-Württemberg und die DFL stellen Finanzen in Aussicht.

sueddeutsche.de: An was scheitert das dann?

Gabriel: Die Stadt Stuttgart hat sich noch nicht dazu entschließen können.

sueddeutsche.de: Das könnte sich nach den jüngsten Protesten ändern.

Gabriel: Ja, in dem Job könnte man manchmal zynisch werden.

sueddeutsche.de: Muss man Angst haben, dass in ein paar Jahren wieder der alte Hooliganismus auflebt?

Gabriel: Wenn die einfachen, repressiven Lösungen gesucht werden, wird sich die Gewalt auf jeden Fall nicht verringern.

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