Europaspiele:Sinnsuche in Baku

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Mit 265 Athleten tritt die deutsche Delegation bei den European Games an - aber nur mit einer Handvoll hochrangiger Olympiasportler.

Von Volker Kreisl, München

Die European Games sind angeblich ein ernst zu nehmendes Format. Das wird permanent von offizieller Seite betont, und deshalb soll diese Veranstaltung alles bieten, was im großen Sport üblich ist. Dazu gehört zu Beginn ein richtiger Sportlereinzug mit richtigen Fahnenträgern. Mit Turner Fabian Hambüchen zum Beispiel, der am Freitagabend die deutsche Fahne in die Arena von Baku tragen wird. Er sagt: "Ich bin sprachlos, das ist eine Riesenehre." Es wird ein großes Eröffnungsfest und eine beeindruckende Show geben, und in diesen Stunden werden viele Athleten kurz ihre Zweifel darüber vergessen, was genau sie hier eigentlich sollen, in Baku, Aserbaidschan.

Alle wollen gewinnen, klar, nur mit welchem Einsatz und Risiko? Ungewiss ist bei vielen auch, welche Form sie und ihre Gegner haben werden, ob sie vielleicht schon zu müde sind - oder umgekehrt noch zu wenig austrainiert. Und auch Fabian Hambüchen, der diese neuen Spiele grundsätzlich als gute Idee und als verlockendes Sportlertreffen lobt, musste einschränken: "Man weiß noch nicht, welche Ziele man sich setzen soll, welchen Stellenwert der Wettkampf hat."

Der deutsche Chef de Mission kritisiert die Europaspiele als "kaum relevant"

Jedem ernst zu nehmenden Wettkampf liegt aber zugrunde, dass der Athlet weiß, worum es geht, sich ein Ziel setzt, und dafür alles gibt. Doch diese künstlich wirkenden European Games passen nicht in den randvollen europäischen Sportkalender 2015. Vorab krisitierte der deutsche Chef de Mission Dirk Schimmelpfennig, sie müssten sich "deutlich weiterentwickeln". Und die schon vergebene Folgeveranstaltung 2019 wurde von der niederländischen Politik am Mittwoch wegen Überteuerung zurückgegeben, noch ehe der erste Wettkampf der Premiere begonnen hat. Begründung: zu teuer, zu niveaulos. Das alles hilft den Athleten in Baku bei ihrer Sinnsuche nicht unbedingt weiter.

Baku präsentiert sich in diesen Tagen von seiner modernen Seite, hier das Heydar Aliyev Zentrum, in dem das Kulturprogramm stattfindet. (Foto: Jamie Squire/Getty Images)

In der absoluten Minderheit sind jedenfalls die Sportler mit einem klaren Ziel. Das sind die Teilnehmer in drei von 20 Disziplinen: Im Tischtennis, Schießen und Triathlon sind die jeweiligen Einzelsieger für die Olympischen Spiele in Rio 2016 direkt qualifiziert. Die Deutschen Dimitrij Ovtcharov und Timo Boll sind als an Nummer eins und zwei Gesetzte hohe Favoriten, große Siegchancen hat bei den DTTB-Frauen auch Han Ying. Im Schießen könnten sich unter anderem Christian Reitz und Munkhbayar Dorjsuren direkt qualifizieren.

An sieben anderen Wettkampfstätten ist das Siegen noch ein bisschen lohnenswert, aber nicht mehr so lukrativ. Da gibt es wenigstens ein paar Weltranglistenpunkte, die am Ende für Rio gebraucht werden. Darunter sind die aus deutscher Sicht wichtigen Sparten Radsport, Ringen und Volleyball. Letztere äußern Siegambitionen: "Wir wollen den Titel", sagt Volleyballer Denis Kaliberda, der nach seiner Schulter-Operation gerade rechtzeitig gesundet ist. Männer-Trainer Vital Heynen erklärt, nach der Bronzemedaille bei der WM 2014 wolle man das Niveau prinzipiell hochhalten, aber weil er andererseits auch einigen wichtigen Spielern während Baku eine Ruhepause gönnt, ist klar, worum es in diesem Jahr eigentlich geht: um die EM im Oktober und das echte Qualifikationsturnier für Olympia im Januar.

Diese Games sind noch ein Fremdkörper im vorolympischen Jahr, und das bekommen Einzelsportler wie die Turner besonders zu spüren. Sie bauen gerade ihre körperliche Form auf, klügeln aber auch ihre Übungen neu aus, die sie bei den eigentlichen Spielen in Rio zeigen werden. Auch deshalb hat Bundestrainer Andreas Hirsch nur drei Turner mitgenommen, die je nach Form der Gegner gewinnen können. Neben Hambüchen noch den soliden Mehrkämpfer Andreas Toba und Pauschenpferd-Spezialist Andreas Krimmer.

Das Trio der deutschen Turner ist andererseits ein Beispiel dafür, dass die Auftritte von Baku auch ohne Rio-Qualifikation interessant werden können. Denn Hambüchen, Toba und Krimmer brauchen Praxistests, am besten im internationalen Vergleich und vor hochrangigen kritischen Kampfrichtern. Ähnlich geht es Kanu-Olympiasieger Sebastian Brendel oder Fechterin Britta Heidemann, die sich nach den Rückschlägen bei der EM nun am Degen Selbstvertrauen für die WM im Juli in Moskau holen kann.

Ein Großteil der rund 6000 Teilnehmer in Baku stammt aus dem Juniorenbereich

Ein großer Teil der rund 6000 Teilnehmer bei diesen Europa-Spielen stammt deshalb auch aus Altersgruppen, die ambitionierte Großveranstalter weniger im Sinn haben: Junioren, nachrückende Teammitglieder mit noch zartem Selbstbewusstsein, wie zum Beispiel die deutschen Florettfechter, unter ihnen der Mannheimer Mark Perelmann, 21. Herbe Niederlagen auf den großen Bühnen will man ihnen ersparen, aber auf der mittelgroßen Bühne in Baku können sie viel lernen.

Die meisten Sportler, die am Freitag in Baku bei der Eröffnung der ersten European Games dabei sind, begreifen die Spiele ohnehin als spannendes Experiment. Deutschlands Tischtennisspielerin Han Ying betrachtet die Games als "kleine Olympische Spiele". Sie sagt: "Ich freue mich auf das Athletendorf und die Atmosphäre." Weil sie zu den Favoritinnen zählt, könnte sie zudem eine Sport-Pionierin werden, die erste European-Games-Gewinnerin im Tischtennis. Und wenn viele dem Beispiel der Niederländer folgen und es wegen der Kritik an der Wettkampf-Überfrachtung keine zweiten Spiele gibt, dann wäre Han Ying eben die erste und einzige Games-Gewinnerin im Tischtennis.

© SZ vom 12.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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