Europas Fußballer des Jahres:Die Poesie der Disziplin

Andrej Schewtschenko vom AC Mailand ist Europas Fußballer des Jahres 2004.

Von Birgit Schönau

"Das macht mich alles ganz nervös", sagt Andrej Schewtschenko, und natürlich sieht man es ihm nicht an. Das schmale Gesicht unbeweglich, die dunklen Augen auf Rehblick gestellt: Das ist sein Alltagsausdruck.

Nur wenn er lacht, scheint sich alles nach oben zu schieben über die hohen Wangenknochen. Aber oft lacht Andrej Schwetschenko nicht. Er ist kein fröhlicher Mensch, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Selbst auf dem Platz hat seine Ausgelassenheit stets etwas Gebremstes. Sheva, wie sie ihn in Mailand nennen, zieht sich beim Torjubel nicht das Hemd aus, springt nicht über Absperrungen, spielt nicht Luftgitarre.

Er hat kein Ritual entwickelt für seine vielen Tore. Am Sonntag waren es wieder zwei - von sechs Treffern, mit denen der AC Mailand den AC Florenz demontierte.

Typische Sheva-Tore, entstanden aus jener Mixtur von Schnelligkeit, Wendigkeit und Kraft, mit denen Andrej Schewtschenko zum besten Fußballer Europas wurde, zum Nachfolger des Tschechen Pavel Nedved von Juventus Turin. Am Montagnachmittag flog der Ukrainer mit einem von Milan gecharterten Privatjet nach Paris, um die Auszeichnung von France Football entgegenzunehmen. Nervös.

"So oft bekomme ich ja keine Preise." Mal abgesehen von der Champions League und dem Meistertitel, den er nun mit Milan verteidigt. Elf Tore in der Serie A, fünf in der Champions League, in dieser Saison. Vergangene Spielzeit war er wieder mal Torschützenkönig. "Der beste Poet des Jahres ist immer, wer am meisten Tore schießt", fand Pierpaolo Pasolini.

Schewtschenko scheint schwerelos auf dem Platz. Einer, für den Fußball nie Arbeit sein wird, einer, der "Professionalität", dieses Totschlagwort kickender Angestellter, meidet wie die Pest. Womöglich einer der letzten Poeten seines Fachs.

Kiews Kastanienbäume

"Wenn ich ein Gedicht schreiben müsste, würde der Fluss Dnjepr darin vorkommen, Kiews Kastanienbäume und die erste Morgenröte nach dem langen Winter", hat Schewtschenko einmal in einem bemerkenswerten Interview mit der Gazzetta gesagt.

Darin erinnerte er auch, wie er auf dem Massagebett bei Dynamo Kiew Verse aus dem Gedächtnis holte, Gedichte von Taras Schewtschenko, dem Poeten der Unabhängigkeitsbewegung aus dem 19. Jahrhundert, "der Masseur und ich, wir hatten einen Wettstreit, wer ihn am längsten auswendig rezitieren konnte".

Dynamo und der AC Mailand sind die einzigen Klubs, in denen der 28-jährige Schewtschenko jemals gespielt hat. Sie könnten nicht verschiedener sein. Dort die Kaderschule von "Oberst" Lobanowski, der seiner Elf einmal in der Halbzeitpause befahl, die Wollstrumpfhosen aus- und die Sommertrikots anzuziehen. Dynamo war im Rückstand, bei einer Temperatur von minus acht Grad. In der zweiten Halbzeit rannten sie der Kälte davon und gewannen noch 2:1.

Und dann, wie als Kontrastprogramm, der AC Mailand mit seinen Rothko-Gemälden im Trainingszentrum, den weißen Pfauen auf dem perfekt gepflegten Rasen, dem traditionell vor wichtigen Spielen servierten Lorbeer-Risotto.

Als Andrej Schewtschenko 1999 in Italien ankam, hatte Silvio Berlusconi umgerechnet 20 Millionen Euro für ihn bezahlt, einen Spottpreis für die mit Stars voll gestopfte Serie A. Schewtschenko war die Nummer zwei hinter Oliver Bierhoff, aber nicht lange.

"Wenn du 25 Tore machst, schenke ich dir eine Yacht", prahlte Berlusconi. Der Neue aus der Ukraine machte 24, und ging leer aus - mal abgesehen von den Millionen, die er inzwischen verdiente.

Die Disziplin hat ihn nach ganz oben gebracht. Mit Leichtigkeit. Für Milan die richtige Mischung. Er ist am selben Tag geboren wie sein Patron, und er ist, so stellte der Corriere della Sera dieser Tage fest, "auch ein eiserner Berlusconianer, das könnte gar nicht anders sein".

Außerhalb des Platzes hält er den Ball schön flach. Nur einmal gab es den Hauch einer Unstimmigkeit. Das war, als Sheva mit der Ex von Piersilvio anbändelte, Berlusconis ältestem Sohn. Eine Amerikanerin, früher Fotomodell, heute Signora Schewtschenko und Mutter des Sohnes Jordan.

Damals stichelte Berlusconi senior, wenn Sheva ein Formtief hätte, läge das wohl an seiner neuen Freundin. Schnee von gestern. Längst ist Andrej Schewtschenko vollkommen integriert in die schöne, neue Milan-Welt, wohnt im Zentrum von Mailand, trägt Designer-Klamotten, und hat mit seinem "Freund Giorgio" den ersten Armani-Laden von Kiew eröffnet, als Geschäftsführer.

Die Familie ist in der Ukraine geblieben, wo der Offizierssohn Schewtschenko wie ein Volksheld verehrt wird. Weswegen es einen Sturm der Entrüstung gab, als er sich kürzlich auf die Seite des wegen Wahlbetrugs verdächtigten Noch-Präsidenten Janukowitsch schlug. "Schäm' dich, Sheva", hatten ukrainische Fans auf Spruchbänder geschrieben, die sie im Stadion von San Siro bei der Partie Milan-Shakhtar Donetsk hochhielten.

Er habe Janukowitsch doch nur als Sportsmann gemeint, präzisierte da Schewtschenko in perfekter Milan-Dialektik. Knalliges Orange ist wirklich nicht seine Farbe.

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