Europa League:Wie Tuchels kluge Taktik scheiterte

Der BVB-Trainer ist ein Problemlöser, doch beim 1:1 gegen Liverpool geht vor allem beim Gegentor einiges schief. Sein System ist trotzdem reifer als das von Klopp. Die Taktik-Analyse.

Von Martin Schneider

Fußballer haben wunderbare Satzbausteine, mit denen sie gleichzeitig die Welt erklären und doch nichts sagen. "Da hat die Abstimmung gefehlt", ist so ein Satzbaustein, der beide Kriterien erfüllt. Er ist meistens nicht falsch. Aber er ist auch so unkonkret, dass der Zuhörer im Endeffekt doch nichts damit anfangen kann. Mats Hummels hätte ihn nach dem 1:1 gegen Liverpool am Donnerstagabend verwenden können, als er nach dem Gegentor durch Divock Origi in der 36. Minute gefragt wurde. Aber er entschied sich dagegen.

"Ich glaube, ich hätte da nicht rausgehen dürfen. Sven hätte vorgehen müssen, ich absichern. Ich habe die Situation relativ früh gesehen, deswegen bin ich hingelaufen", sagte er nur Minuten nach Spielende präzise in ein TV-Mikrofon. Aber tatsächlich eignet sich das Gegentor von Borussia Dortmund wunderbar, um einmal ausführlicher zu erklären, was denn mit "fehlender Abstimmung" gemeint ist.

Die Fehlerkette beginnt mit den Dortmunder Stürmern

Die Szene beginnt mit Lukas Piszczek: Der Rechtsverteidiger gewinnt zentral den Ball und versucht, auf Pierre-Emerick Aubameyang durchzustecken, der aber aus dem Abseits kommt. Liverpools Torhüter Simon Mignolet reagiert schnell, holt den Ball und eröffnet das Spiel mit einem kurzen Pass zu einem Liverpooler Abwehrspieler. Streng genommen beginnen hier schon die Fehler: Bis zu diesem Zeitpunkt liefen die vier vorderen Spieler des BVB (Marco Reus, Henrik Mkhitaryan, Gonzalo Castro und Aubameyang) die Liverpooler Abwehr konsequent und sehr früh an, geregelte Pässe zum Spielaufbau waren kaum möglich, die Reds hatten damit massive Probleme.

Doch in dieser Situation - weil Aubameyang noch gedanklich beim verpassten Piszczek-Pass war - kommt der Ball unbedrängt zu Liverpools Alberto Moreno hinter die Mittellinie. Eine Situation, die Dortmund zuvor konsequent verhinderte. Mkhitaryan läuft ihn nur halbherzig an und Moreno kann flanken. Dann kommt der größere Fehler.

Im modernen Fußball hat jeder Abwehrspieler seine Zone, also einen Bereich des Feldes, für den er zuständig ist, in dem er Zweikämpfe führt oder Gegner bedrängt. Kommt der Ball in diese Zone, geht der zuständige Abwehrspieler hin, die anderen Spieler der Kette sichern ihn ab. Die Flanke von Moreno landet eindeutig in der Zone von Sven Bender. Bender erkennt das, und bewegt sich zum Ball hin. Weil Hummels in dieser Situation aber nahe zum Gegenspieler steht, geht er zum Kopfball, in der Hoffnung, die Situation sofort klären zu können. Er verliert aber und reißt dadurch ein riesiges Loch in die Abwehrkette. Bender hat erst einen Schritt vor und wieder zurück gemacht, verliert dadurch Geschwindigkeit. Piszczek muss mit Rückstand ins Laufduell gegen Origi, der schließlich trifft.

Ein Spiel, symptomatisch für die Stile der beiden Trainer

Es war insgesamt ein Spiel, das symptomatisch für die Stile der beiden Trainer Klopp und Tuchel stand. Klopp will dem Gegner Probleme bereiten, Tuchel will Probleme lösen. Der BVB ist das taktisch viel reifere Team. Allerdings spielte das Klopp paradoxerweise in die Karten, dessen Taktik ja bessere Gegner braucht - wie ein Karatekämpfer, der die Stärke des Gegners ausnutzt. Real Madrid oder Bayern München (zwei Jahre lang) erinnern sich mit Schrecken daran.

Tuchel spielte wie schon oft mit einer Dreier-Kette bei eigenem Ballbesitz (Piszczek-Bender-Hummels), die bei gegnerischem Ballbesitz und überspieltem Gegenpressing zu einer Fünfer-Kette wurde (mit Marcel Schmelzer und Erik Durm auf den Außenpositionen). Eine kluge Taktik gegen Mannschaften, die wie Liverpool hohes Pressing spielen, weil man im Spielaufbau drei statt zwei Mann auf der hintersten Linie hat und drei Spieler vom Gegner mit viel mehr Laufaufwand unter Druck gesetzt werden müssen als nur zwei.

Zumal Jürgen Klopp ein 4-3-3 spielte und mit den "mittleren Drei", Emre Can, James Milner und Jordan Henderson, das Zentrum dichtmachte. Tuchel versuchte diese aggressive Mitte über Durm und Schmelzer zu umspielen, was zuweilen ganz gut funktionierte, allerdings zu dem Preis, das Mkhitaryan im Zentrum bis auf ein, zwei Aktionen isoliert war.

Vorteil BVB: Tuchel weiß, was ihn im Rückspiel erwartet

In der zweiten Halbzeit wechselte Tuchel Nuri Sahin für Durm ein, vermutlich weil er hoffte, dass Liverpool in Führung liegend tiefer verteidigen würde. Durch Sahin wollte er das Spiel besser durchs Zentrum aufbauen. Mkhitaryan rückte zudem auf den Flügel, um dort mit mehr Geschwindigkeit zu agieren. Allerdings tat Klopp ihm den Gefallen nicht, Liverpool verteidigte zwar tiefer, aber in der vordersten Reihe genauso aggressiv wie noch in der ersten Halbzeit. Mit dem Ergebnis, dass der Ball nicht zu Sahin kam und oft in der neuen BVB-Viererkette hin und her wandern musste.

Allen voran erkannte Hummels die festgefahrene Situation, rückte weiter nach vorne und versuchte, die Liverpooler Pressingreihen mehrfach mit seinen langen Bällen zu überspielen. Doch auch die Einwechslung von Christian Pulisic für den wirkungslosen Aubameyang (und die damit verbundene Rückkehr von Mkhitaryan ins Zentrum) brachte keine Lösung.

Der BVB hat den Vorteil, dass er im Rückspiel genau weiß, was ihn erwarten wird. Klopp-Fußball ist Klopp-Fußball, der Ex-Dortmunder wechselt nicht dreimal im Spiel das System. Das Problem ist aber: Selbst wenn man ihn bis zum letzten Spielzug durchschaut hat (und man kann davon ausgehen, dass es in dieser Dortmunder Mannschaft ein paar Experten dafür gibt), ist er wahnsinnig schwer zu bespielen. Trotz der verkorksten letzten Saison in Dortmund gibt es ja schließlich Gründe, warum er den BVB zu drei Titeln und bis ins Champions-League-Finale geführt hat.

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