Europa League:Gereift in der andalusischen Sonne

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Ivan Rakitic hat seine Leistungen in Spanien stabilisiert. Jetzt winkt der Sieg in der Europa League.

(Foto: AP)

Am Ende einer Saison, die eigentlich der Schadensbegrenzung dienen sollte, steht der FC Sevilla im Finale der Europa League gegen Benfica Lissabon. An diesem Abend hängt bei den Spaniern wieder viel von einem einstigen Schalker ab - Ivan Rakitic hat sich zum Herz des Teams entwickelt.

Von Oliver Meiler, Barcelona

Sie küssen ihn jetzt auf den Kopf, wo er auch auftritt. Es küssen ihn auch Leute, die er nicht kennt, die dafür mit beiden Händen nach seinem Kopf fassen. Und Stéphane Mbia lässt es geschehen, lächelt dazu. Lieb und schön sei das, sagt er. Es widerfährt dem Kameruner gerade das, was einem Fußballer bestenfalls passieren kann: In Sevilla, unter den Fans des FC Sevilla, dem er seit einem Jahr erst angehört, liebt man ihn für seine wundersamen Verdienste um das Vereinsglück. Genau genommen, ist es ein einziges Verdienst, geleistet in der 94. Minute des Rückspiels im Halbfinale der Europa League gegen den FC Valencia.

Alles schien schon verloren zu sein - aus, vorbei, 0:3 (Hinspiel: 0:2). Da wuchtete der Mittelfeldspieler noch einmal seinen mächtigen Körper in den verzweifelten Sturmlauf der Seinen. Und traf, mit dem Kopf. In Sevilla, wo man ein enges Verhältnis zur Spiritualität pflegt, hat Mbia, der bislang eher für sein ausschweifendes Nachtleben und seine nur schwer kanalisierbare Energie bekannt war, nun plötzlich das Zeug zum Heiligen. Ganz egal, ob ihm je wieder etwas Vergleichbares gelingen sollte oder nicht.

Der FC Sevilla spielt dank seines Kopftors an diesem Mittwoch in Turin gegen Benfica Lissabon ums europäische Krönchen, um den Sieg in der Europa League. Und da die Andalusier noch nie ein europäisches Finale verloren haben, ist die Zuversicht auf einen dritten Titel nach 2006 und 2007, als sich der Wettbewerb noch Uefa-Cup nannte, ganz groß. Vielleicht mehrt sich das Glück sogar noch zusätzlich, wenn Mbias glatt rasiertes Haupt vorab viel geküsst wird. "Die Glücksglatze", titelt die Sportzeitung Marca.

In Spanien hätte zu Beginn der Saison niemand auf dieses Team gewettet. Es war eines von vielen Beispielen der Wirtschaftskrise, die auch den Fußball erfasst hatte. Der FC Sevilla musste im vergangenen Sommer völlig entkernt werden. 16 Spieler ließ der Verein ziehen, mithin seine wertvollsten Akteure, um die Finanzen einigermassen in den Griff zu bekommen: Alvaro Negredo, Jesús Navas, Geoffrey Kondogbia - alle weg. Man holte billigeres Personal, 14 Neue, mit denen man eine Übergangssaison bestreiten wollte, eine zum Vergessen. Mehr Hoffnung war nicht.

Auch Leihgaben sollten bei der Schadenbegrenzung helfen. So kam zum Beispiel Marko Marin vom FC Chelsea nach Sevilla, wo er auf Piotr Trochowski traf, den einstigen Kameraden aus der deutschen Nationalmannschaft, der schon länger da spielt. Deutsch spricht auch Ivan Rakitic, der Kroate, der einst in der Schweiz aufgewachsen war und auf Schalke fußballerisch wuchs. Die berufliche Reife aber, die erreichte Rakitic in Sevilla und ausgerechnet in dieser Saison. Der baskische Trainer Unai Emery machte ihn zum Kapitän.

Lange Haare und eine Frau

Alles dreht sich um den feinen Techniker, das Spiel und die Umkleide. Sein Haar trägt Rakitic nun etwas länger. Die Ehe mit einer Sevillanerin soll ihn insgesamt stabilisiert haben. Mit einiger Genugtuung vermelden die Medien, dass Rakitics Spanisch mittlerweile vom lieblichen andalusischen Singsang durchsetzt sei. Es ist seine vierte Spielzeit beim FC Sevilla und womöglich seine letzte: Real Madrid soll sehr interessiert sein.

Für reichlich Spektakel sorgt auch ein anderer Mann mit interessanter Biografie: Carlos Bacca aus Puerto Colombia an der kolumbianischen Karibikküste. Der kraftvolle, tief gläubige Stürmer aus bescheidenen Verhältnissen finanzierte seine Träume vom Fußball in seiner Heimat lange Zeit mit Nebenjobs als Fisch- und Busticketverkäufer.

Bis 22 Uhr fuhr er jeden Tag als Begleiter auf den Linienbussen nach Barranquilla. Dann nahmen sie ihn beim dortigen FC auf. Nun ist er 27, hat auf Geheiß des Coachs fünf Kilo abgenommen und tankt sich mit eindrücklicher Kraft durch spanische und europäische Abwehrreihen. In der laufenden Liga erzielte er bislang 14 Tore - so viele wie Gareth Bale von Real und fünf mehr als Neymar von Barça, die beiden "100-Millionen-Männer".

Auch Bacca kam erst im letzten Sommer, vom FC Brügge. Viel Hoffnung auf den großen Durchbruch hatte auch er nicht. Doch dann erzielte er zwei Tore gegen Real Madrid, sie machten ihn bekannt. Um seine Dienste buhlt Atlético Madrid. Wenn Bacca mal nicht trifft, bietet sich der Franzose Kevin Gameiro als Alternative an, ein schneller Stürmer, der sich bei Paris St. Germain einer übermächtigen Konkurrenz gegenüber sah und ebenfalls im Sommer 2013 nach Sevilla kam.

Trainer Emery ist bekannt dafür, dass er offen spielen lässt, mit viel Drang nach vorne. Das geht manchmal fürchterlich schief, zumal hinten. An guten Tagen aber, mit etwas Gleichgewicht im Mittelfeld, macht das direkte, schnelle Spiel der Andalusier viel Spaß.

Und so gestaltet sich diese Saison für den FC Sevilla zur unerwartet freundlichen Angelegenheit: Finalist in der Europa League, nachdem man auch den ewigen Stadtrivalen Betis Sevilla eliminiert hat, Fünfter in der Meisterschaft mit gesicherter Teilnahme an internationalen Wettbewerben auch in der kommenden Saison - so lässt sich der vermeintliche Übergang länger aushalten. Würden nur die neuen Helden bleiben.

Wahrscheinlicher aber ist es, dass der FC Sevilla nun erneut vor einem Totalumbau steht, dass die Besten für viel Geld gehen und der Schuldentilgung dienen, dass Zweitbeste kommen und sportliche Wunder leisten sollen. Denkwürdige und küssenswerte Kopfbälle in der Nachspielzeit zum Beispiel.

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