England:Plötzlich Stress und Zweifel

Russlands später Ausgleich sorgt nach einer anfangs dynamischen Phase für Frust - und jetzt wartet Wales.

Von Raphael Honigstein, Marseille

Späte Tore machen den Fußball mitunter zur "verfluchten Hölle", das hat Trainerlegende Sir Alex Ferguson mal gesagt, und ganz genau kennt man diese Weisheit auf der Insel spätestens seit Manchester Uniteds historischem Last-Minute-Champions-League-Sieg gegen den FC Bayern vor 17 Jahren. Doch auf die Brutalität, mit der Wasili Beresuzkis 1:1-Ausgleich in der Nachspielzeit jetzt Roy Hodgsons Elf erwischte, konnte man aus englischer Sicht dennoch unmöglich vorbereitet sein. Das Bogenlampen-Kopfballtor des russischen Verteidigers war erst der Beginn des eigentlichen Schreckens - es war der Marschbefehl für prügelwütige Ultras auf den Rängen. Auf dem Boden sitzend mussten die Briten zusehen, wie die sportliche Enttäuschung im Vélodrome von Marseille in echtem Horror ausartete.

Zu der Gewalt im Stadion wollte sich hinterher niemand dezidiert äußern. Die Russen hatten nach eigenen Angaben die von ihrem Anhang angezettelte Schlägerei im englischen Block nicht einmal bemerkt: "Ich habe gar nichts mitbekommen; nur, dass die Tribüne im Eck auf einmal leer war", versicherte der Neu-Russe Roman Neustädter (Schalke 04) glaubhaft. "Es gab keine Zusammenstöße, alles ist in Ordnung hier", behauptete Sportminister Witali Mutko unverfroren (.

England v Russia - Group B: UEFA Euro 2016

Bogenlampe als Glücksbringer: Wasili Beresuzki (Rot) springt höher als Englands Verteidiger Rose und köpfelt den Ball in der Nachspielzeit zum 1:1 ins Tor.

(Foto: Laurence Griffiths/Getty Images)

Der englischen Reisegruppe stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Kapitän Wayne Rooney, rot von der Hitze und doch blass um die Wangen, klammerte sich an den "wirklich tollen Fußball" seiner Mannschaft aus der ersten Hälfte: "Wir haben super Chancen produziert und das Spiel kontrolliert." Hodgsons wagemutiges System mit dem 30-jährigen Rooney in neuer Rolle - als Taktgeber in der Zentrale zwischen dem dynamischen Jungspund Dele Alli und dem kultivierten Sechser Eric Dier (beide Tottenham) - hatte vor der Pause verlässlich Ball-Nachschub für die gefährlichen Offensivkräfte geliefert. Die ohne Druck auf den Gegner weit in der eigenen Hälfte verteidigenden Russen verdankten den 0:0-Halbzeitstand in erster Linie der Abschlussschwäche von Liverpools Adam Lallana und der Kopflosigkeit von Raheem Sterling (ManCity), der mal wieder gedankenlos in Sackgassen sprintete.

"Wer so dominiert und spät ein Tor kassiert, fühlt sich wie ein Verlierer", sagte dann auch der englische Nationaltrainer, "das ist eine ganz bittere Pille für uns." Ob diese Pille mittelfristig medizinische Wirkung zeigt und die Beschwerden lindert, ist allerdings eine andere Frage. Lange vor dem 1:1 war es mit Englands Herrlichkeit schon vorbei gewesen, eine höhere Verteidigungsreihe des Gegners und entschiedenes Pressing ließen nach Wiederbeginn das Passspiel zusammenbrechen; Rooneys Wirkungskreis wurde immer kleiner, sein Antritt immer schwerfälliger, bis er quasi nur noch aus dem Stand agierte und eine Viertelstunde vor Schluss für Arsenals Jack Wilshere weichen musste. "Wir hatten wackelige 15 Minuten nach dem Seitenwechsel", räumte Hodgson ein, und das war vorsichtig geschätzt.

England: Verhinderter Held des Tages: Englands Torschütze zum 1:0, Eric Dier, verwandelte einen Freistoß.

Verhinderter Held des Tages: Englands Torschütze zum 1:0, Eric Dier, verwandelte einen Freistoß.

(Foto: Claude Paris/AP)

Trainer Hodgsons Fußball sieht so aus, als sei Freiheit ein Mangel an konkreten Anweisungen

Englands 1:0 durch den 22-jährigen Dier (73.) fiel gegen die Laufrichtung einer Partie, die zu diesem Zeitpunkt die mit schlichten Mitteln werkelnden Russen bestimmten. Dier, der fußballerisch in Portugal sozialisiert wurde und einen Freistoß zuletzt in der B-Jugend von Sporting Lissabon geschossen hatte, wäre mit seinem Gefühl und Wucht vereinenden Treffer der perfekte Held gewesen - ein uneigennütziger Spieler, der die seit Jahrzehnten von der Nationalelf angestrebte Synthese aus englischer Leidenschaft und kontinentalem Grips möglich macht.

Beresuzkis glückliches Tor ließ den Traum zerplatzen. Zurück bleiben die altbekannten Zweifel an Hodgsons Fähigkeiten, aus einer talentierten Truppe eine funktionierende Mannschaft zu bilden. Der 68-Jährige wirkt bisweilen, als coache er mit seiner offensiven Aufstellung gegen das eigene Naturell an, um das nach Draufgängertum lechzende Publikum in der Heimat zufriedenzustellen. Er kämpft in Frankreich um die Verlängerung seines Vertrages, muss dafür Medien und Kabine bei Laune halten. Sein England soll mit möglichst vielen Leuten mutig stürmen.

Freiheit, das sah man am Samstag aber selbst in den besseren Szenen, ist im Fußball manchmal nichts anderes als ein Mangel an konkreten Anweisungen. Gegen Ende hin wechselte der Trainer dann doch konservativ aus. Statt den erschöpften Harry Kane in der Sturmmitte durch Konterstürmer Jamie Vardy zu ersetzen, brachte er den braven Abräumer James Milner für Sterling: "Wir wollten bewahren, was wir hatten", sagte er später unglücklich. Die friedlich-geruhsamen Tage in Chantilly hat der Ausflug nach Marseille binnen einer Sekunde beendet, England steht vor dem britischen Brüderduell mit Wales schon wieder gewaltig unter Stress. Ein Misserfolg am Donnerstag in Lens wäre die Hölle. Ganz egal, wann die Tore fallen.

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