England:Kraftakt des Winzlings

England: Sie haben ihn zum Drücken gerne: Huddersfields Trainer David Wagner (in der Mitte) wird von seinem Trainerteam robust geherzt.

Sie haben ihn zum Drücken gerne: Huddersfields Trainer David Wagner (in der Mitte) wird von seinem Trainerteam robust geherzt.

(Foto: Ben Stansall/AFP)

Der deutsche Trainer David Wagner führt Huddersfield in der Premier League zum Klassenverbleib - mit diversen Ex-Bundesliga-Profis.

Von Sven Haist, London

In der Hoffnung, dass diese Nacht niemals enden würde, entschieden die Spieler des englischen Erstligisten Huddersfield Town, den geplanten Rückflug abzusagen. Die 200 Meilen lange Heimreise aus London wollte das Team um Mitternacht lieber mit dem Bus absolvieren, um bei der Sause zum Ligaverbleib keine Rücksicht nehmen zu müssen auf die gesetzlichen Luftfahrtbestimmungen. Wie in der Vorsaison, als Huddersfields Aufstiegsparty in einem heruntergekommenen Hotel stattfand, war der Klub auch auf diesen Coup nicht wirklich vorbereitet. Der Busfahrer hatte seine zulässige Arbeitszeit überschritten, so dass die Profis schließlich im "Chinawhite", einem Nachtclub am Oxford Circus, in die Morgenstunden tanzten. Am nächsten Tag ging es dann mit dem Zug zurück nach Huddersfield, bis Samstag gab David Wagner den Beteiligten frei. "Wir machen jetzt 48 Stunden, was die Spieler wollen", sagte Wagner.

Als erster deutscher Trainer in der Geschichte des Klubs führte er Huddersfield nach seinem Amtsbeginn im November 2015 schnurstracks aus den Niederungen der zweiten Liga heraus und nun zum Klassenerhalt. "Wenn ich das beschreibe, kann ich es selbst kaum glauben. Für mich persönlich ist das der größte Erfolg, eine Überleistung, eine noch größere Heldentat als der Aufstieg im vergangenen Jahr. Das fühlt sich an wie eine Trophäe."

Durch das 1:1 beim FC Chelsea liegt Huddersfield Town vor dem letzten Spieltag vier Punkte vor den Abstiegsrängen, was den Verbleib in der Premier League für eine weitere Saison garantiert. Trotz des mit Abstand geringsten Etats der Liga wendete Huddersfield die Rückkehr in die Zweitklassigkeit ab, die Stoke City, West Bromwich und Swansea City bevorsteht - sofern der walisische Verein den um drei Zähler und neun Tore besser in der Tabelle dastehenden FC Southampton nicht noch überholt.

Die Spieler werfen Wagner durch die Luft, die Fans besingen ihn

Nach dem Meistertitel des krassen Außenseiters Leicester City vor zwei Jahren führte nun der Winzling aus der Grafschaft Yorkshire die steinreiche Premier League an der Nase herum: Die entscheidenden zwei Punkte zum Erreichen des Saisonziels holte Huddersfield in dieser Woche just in den Duellen mit dem diesjährigen Meister Manchester City und dem letztjährigen Meister Chelsea. Auch die Chelsea-Spieler verzweifelten an der gegnerischen Opferbereitschaft, ihr Tor wie einen Schatz zu bewachen. Huddersfields defensive Leidenschaft erinnerte an das Überlebenstraining des Teams in Skandinaviens Wildnis. Völlig entkräftet warf sich der deutsche Abwehrchef Chris Schindler, einst bei 1860 München aktiv, nach Abpfiff auf den Rasen. "Ich fühle nur Leere und Erleichterung. Bis ich das realisiert habe, wird es ein paar Wochen dauern. Das war einer der Tage, wo es so sein sollte. Wenn man alles reinlegt, was man bieten kann, dann sieht das der Fußballgott."

Im Kollektiv stürmten später alle auf Trainer Wagner zu und warfen ihn vor den Fans in die Luft, die die brisante Erkenntnis durchs Stadion brüllten, dass es auf der ganzen Welt nur einen David Wagner gebe. "Ich bin alles andere als wichtig. Was der Klub geleistet hat, ist unbeschreiblich. Wir haben es aus eigener Kraft geschafft", sagte Wagner. Nach den Feierlichkeiten rannte er übers halbe Spielfeld, um auf der Ehrentribüne den Eigentümer Dean Hoyle zu grüßen, der seit Kindheit mit dem Klub verbunden ist und ihn im Sommer 2009 kaufte. Zuvor initiierte Wagner eine Polonaise auf den Knien, dabei ist er eigentlich derjenige, der bei Huddersfield selbst im Siegestaumel stets die Übersicht bewahrt. Selbst während der sechsminütigen Nachspielzeit mahnte er seinen engsten Vertrauten Christoph Bühler noch zur Ruhe an der Seitenlinie. Neben dem glaubhaft verkörperten Optimismus gilt vor allem Wagners kluge Kaderzusammenstellung als Basis für den aktuellen Höhenflug.

"Wie groß man ist, zählt nicht", sagt Wagner

Aus der Enklave von neun Profis, die bereits im deutschen Profifußball zum Einsatz kamen, schaffen es mit dem ehemaligen Mainzer Torhüter Jonas Lössl, Chris Schindler, dem ehemaligen Kapitän beim TSV 1860, und dem früheren Lauterer Linksverteidiger Chris Löwe nur drei Spieler regelmäßig in die Startelf. Im Gegensatz zu den unmittelbaren Konkurrenten im Abstiegssumpf besitzt Huddersfield dank Lössl einen überdurchschnittlich guten Torwart. In der Schlussphase lenkte er einen Kopfball mit den Fingerspitzen an den Pfosten. Vor ihm organisiert Schindler durch sein Spielverständnis die Defensive. Der wahre Terrier unter den Terriern, so wird der Klub genannt, ist aber der drahtige Abräumer Jonathan Hogg, der vor nichts und niemandem auf dem Platz zurückschreckt. Neben dem bulligen Torjäger Laurent Depoitre besitzt Huddersfield in der Offensive mit Rajiv van La Parra zwar noch eine leichtfüßige Ergänzung, aber gemessen an der individuellen Qualität gehört Huddersfield Town vermutlich auf den hintersten Tabellenplatz der Premier League. "Wie groß man ist, zählt nicht. Es geht einfach darum, es zu versuchen", sagt David Wagner gern.

Wagners Vertrag läuft noch für die nächste Spielzeit, in der Huddersfield - beim Versuch, erneut die Liga zu halten - ein weiterer Kraftakt bevorsteht. "Ich möchte nicht respektlos sein, aber ich habe gerade keine Gedanken für die neue Saison übrig", sagte er: "Jetzt wird gefeiert." In der Hoffnung, die Nacht würde nie zu Ende gehen.

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