Englischer Fußball :"Es war die ganze Bandbreite des Missbrauchs"

Englischer Fußball : So sehen die neuen englischen Fußball-Akademien aus (hier die von Manchester City); aus den alten werden nun erschütternde Geschichten erzählt.

So sehen die neuen englischen Fußball-Akademien aus (hier die von Manchester City); aus den alten werden nun erschütternde Geschichten erzählt.

(Foto: Jon Super/AP)
  • In England melden sich nach dem Bericht des Ex-Profis Andy Woodward immer mehr Fußballer zu Wort, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren missbraucht wurden.
  • Zentrum des Skandals ist der Klub Crewe Alexandra, wo der Trainer Barry Bennell sich an Zehn- bis 15-Jährigen verging.
  • Wie groß der Skandal wirklich ist, ist noch nicht abzusehen.

Von Christian Zaschke, London

In britischen Boulevardblättern wird der Fußball üblicherweise auf den letzten Seiten verhandelt, weshalb Sportfans ihre Zeitung gern von hinten lesen. Steht der Fußball doch einmal vorne auf der Titelseite, geht es meist um Bagatellen, die zu Skandalen aufgeblasen werden. Fußballer fährt zu schnell Auto. Fußballer trinkt zu viel Bier. In diesen Tagen aber schafft es der Fußball mit einem Thema auf die englischen Titelseiten, dessen Tragweite erst allmählich überschaubar wird: Mehrere ehemalige Spieler haben gesagt, dass sie in den Achtziger- und Neunzigerjahren von Jugendtrainern sexuell missbraucht worden sind. Ein Opfer vermutet, dass es im Norden Englands einen Pädophilen-Ring gegeben haben könnte.

Seitdem der ehemalige Fußballer Andy Woodward vor knapp zwei Wochen von seiner Leidenszeit berichtet hat und davon, wie sie ihn sein Leben lang begleitet, vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht weitere Männer zu Wort melden. Woodward hat ihnen den Mut verliehen, ebenfalls an die Öffentlichkeit zu gehen.

Im Zentrum des Missbrauchsskandals steht der Klub Crewe Alexandra, der heute in der vierten Liga spielt. Dort hat der Trainer Barry Bennell in den Achtziger- und Neunzigerjahren Kinder im Alter zwischen zehn und 15 Jahren missbraucht. Bennell sagte den Jungen, er werde sie zu Stars machen und ihnen ihre Träume erfüllen, und tatsächlich galt Crewe Alexandra als Talentschmiede. Doch die Träume der Jungen verwandelten sich sehr schnell in Albträume der ganz brutalen Sorte.

Bennell beließ es nicht beim Betatschen. Ian Ackley, der als Zehnjähriger begann, für Crewe zu spielen, sagt: "Ein, zwei Wochen nachdem ich zum Klub kam, ging es schon los. Es war die ganze Bandbreite des Missbrauchs. Es gab keine Limits für Bennell, um zu kriegen, was er wollte." Wie Andy Woodward ertrug Ackley die Vergewaltigungen jahrelang, ohne jemandem davon zu erzählen. Bennell hatte sie bedroht. Und dann war da ja immer noch der Traum, eines Tages Profi zu werden.

Bennell hatte beste Kontakte im Fußball des Nordens, unter anderem zu Stoke City und Manchester City sowie zu vielen weiteren Nachwuchsteams. Alljährlich fuhr er mit einer Gruppe von talentierten Jungen in Fußball-Camps in den USA. Auf diesen Reisen verging er sich regelmäßig an seinen Schutzbefohlenen. 1994 erzählte ein 13 Jahre alter Junge seinen Eltern von den Übergriffen. Bennell wurde erstmals zu einer Haftstrafe verurteilt, die er in den USA absaß. Nach seiner Rückkehr wurde er 1998 in Großbritannien erneut zu einer Haftstrafe verurteilt. In dem Verfahren gegen ihn sagten sowohl Woodward als auch Ackley aus. Sie hatten jedoch darauf bestanden, anonym zu bleiben. Erst jetzt, weitere 18 Jahre später, fanden sie die Kraft, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Wie erst am Montagnachmittag bekannt wurde, ist Barry Bennell, heute 62 Jahre alt, am Freitag bewusstlos ins Krankenhaus gebracht worden. Weitere Angaben zu seinem Zustand gab es zunächst nicht.

Wie viele Kinderschänder gab es im englischen Fußball?

Dieser Schritt hat dazu geführt, dass mehr und mehr Fußballer es ihnen gleichtun, darunter auch ehemalige Nationalspieler. Paul Stewart, der einst für Liverpool und Tottenham auflief, erzählte, dass er von einem anderen Trainer missbraucht worden sei, der aber in den gleichen Kreisen wie Bennell verkehrt habe.

Nachdem er Woodwards Geschichte gehört hatte, sagte er seiner Familie beim Abendessen, dass er ebenfalls plane, an die Öffentlichkeit zu gehen. "Sie haben gesagt, dass sie voll hinter mir stehen und stolz auf mich sind", erzählt er. Stewart fürchtet, dass das ganze Ausmaß des Skandals noch nicht absehbar sei. Es könnte schlimmer werden als der Savile-Fall, glaubt er. Der ehemalige BBC-Entertainer Jimmy Savile hatte jahrzehntelang Minderjährige missbraucht, was erst nach seinem Tod im Jahr 2011 bekannt geworden war.

Stewarts Geschichte gab weiteren Fußballern Mut. David White, ehemals Manchester City, erzählte von seinen Leiden. Er schreibt gerade an einem Buch über den Missbrauch, den er hat erleiden müssen. Jason Dunford, der in den Jugendteams von Manchester City spielte, sagt: "Ich glaube, es gab damals einen Pädophilen-Ring." Auf einer in der vergangenen Woche eingerichteten Hotline sind bereits mehr als hundert Anrufe eingegangen.

Vier Polizeibehörden haben Ermittlungen aufgenommen

Gordon Taylor, Chef der Profifußballer-Gewerkschaft PFA, sagt, dass nach Woodwards Vorstoß mehr als 20 ehemalige Profis von Missbrauch berichtet hätten. Neben Crewe und Manchester City seien unter anderem auch Blackpool, Leeds, Stoke oder Newcastle betroffen. Vier Polizeibehörden haben Ermittlungen aufgenommen. Der englische Fußball-Verband FA hat eine interne Untersuchung anberaumt. Der Vorsitzende Greg Clarke sagte: "Das sind abscheuliche Verbrechen, die von der Polizei untersucht werden müssen, und wir werden sie dabei unterstützen."

Die große Frage im englischen Fußball ist nun, wie viele Kinderschänder wie Barry Bennell in den Jugendteams ihr Unwesen getrieben haben. Nachdem Jimmy Saviles Taten ans Licht kamen, wurde rasch klar, dass Savile nicht allein war, sondern dass Missbrauch in der Glitzerwelt des Entertainments in den Siebziger- und Achtzigerjahren alles andere als selten war. Andy Woodward erwartet, dass im Fußball nun Ähnliches passiert und die Zahl der publik werdenden Fälle dramatisch steigt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: