Endspielort Rio de Janeiro:Große Dramen sind anderswo

World Cup 2014 - Rio de Janeiro

Die Cristo-Statue und das Maracanã: Sehnsuchtsorte in Rio

(Foto: dpa)

Hier wurde niemand gebissen, es gab keine epischen Aufholjagden oder dramatische Elfmeterschießen. Das weltberühmte Stadion Maracanã sollte das Herz der WM werden, doch es wartet noch auf seinen großen Moment. Im Endspiel muss nun irgendetwas Unvergessliches passieren.

Von Claudio Catuogno, Rio de Janeiro

Einmal, ungefähr dreieinhalb Stunden vor dem Achtelfinale zwischen Kolumbien und Uruguay, haben sogar die Polizisten kurz ihre professionelle Grimmigkeit abgelegt vor dem Estádio do Maracanã. Es standen hier immer eine Menge Polizisten herum; wenn man von der U-Bahn-Station "Maracanã" zur Arena gleichen Namens wollte, musste man acht Polizeisperren durchqueren, acht Mal sein Ticket vorzeigen, acht Mal blickte man in unbeteiligt entschlossene Gesichter.

Aber nun wehte aus einem der nahen Hinterhöfe plötzlich Jubel herbei, Brasilien war offenbar gegen Chile 1:0 in Führung gegangen. Eine Polizistin zog ein Smartphone aus der Tasche, damit man sich auf dem trüben Display den Treffer noch mal anschauen konnte, man sah eigentlich nichts, aber immerhin vermischten sich kurz die Welten. Fans aus Kolumbien, brasilianische Polizisten, Reporter aus Deutschland starrten auf ein Handy, in dem sich die Sonne spiegelte. Alle riefen: "Brasil!" Es war zweifellos einer der WM-Höhepunkte rund ums Maracanã von Rio de Janeiro: Brasilien hatte - vermutlich, wahrscheinlich - ein Tor geschossen. In Belo Horizonte.

Jetzt ist die Weltmeisterschaft bald vorbei, und die Seleção, das bleibt eine der seltsamen Randgeschichten dieses Weltturniers, hat nicht ein einziges Mal im Maracanã gespielt. Sie liefen auf in São Paulo, Fortaleza, Brasília und Belo Horizonte. Die Brasilianer wollten das so, wohl aus einer Mischung aus Aberglaube und Selbstüberschätzung. Das Maracanã hatten sie sich fürs Finale aufgespart. Aber dieses Finale bestreiten jetzt Deutsche und Argentinier.

Und so bleibt das einschneidendste Erlebnis der Brasilianer in diesem vielleicht berühmtesten Fußballtempel der Welt weiter jenes 1:2 gegen Uruguay im Entscheidungsspiel der WM 1950: das nationale Trauma, das sie Maracanazo nennen. Dessen Wiederauflage des Jahres 2014, das 1:7 im Halbfinale gegen Joachim Löws Alemanha, wird man hingegen auf ewig mit dem Estádio Mineirão von Belo Horizonte in Verbindung bringen. Zum Maracanazo kam das Mineiraço.

Doch auch ohne die Seleção sollte das Maracanã das Herz der WM werden. Das schien gar nicht anders möglich zu sein bei einem Stadion, das so sehr seinen eigenen Mythos nährt. Aber so richtig wild geschlagen hat es bisher nicht, dieses Herz. Es sind ein paar berühmte Namen vorbeigekommen im Laufe der sechs Partien, die hier bisher stattfanden: der Argentinier Lionel Messi, der Spanier Andrés Iniesta, der Kolumbianer James Rodriguez, der Franzose Karim Benzema.

Der Deutsche Mats Hummels hat im Viertelfinale das entscheidende Tor gegen Frankreich erzielt, und als der ebenfalls sehr deutsche Per Mertesacker danach in den Katakomben des Stadions gefragt wurde, wie groß seine Lust sei, noch mal nach Rio und ins Maracanã zurückzukommen, war das Maximum an Überschwang, das er herausbrachte: "Ich bin offen dafür."

Das ist jetzt ungefähr die emotionale Messlatte. Sie liegt noch nicht besonders hoch. Es wurde bei der WM in Rio niemand gebissen, es gab keine epischen Aufholjagden oder dramatischen Elfmeterschießen oder Schwalben in der Nachspielzeit, es stand nie die halbe Stadt unter Wasser. Die großen Dramen des Fußballs haben sich anderswo abgespielt.

Messis erlösendes Tor ebnet Argentinien den Weg

Vielleicht mit einer Ausnahme. Der spanische Torwart Iker Casillas, den sie zu Hause San Iker nennen, heiliger Iker, konnte im Maracanã zweimal den Ball nicht festhalten, Spanien verlor 0:2 gegen Chile, der Welt- und Europameister schied aus. Auf der Bank saß der große Xavi Hernández und musste tatenlos zusehen. Es hieß Abschied nehmen von einer einst Goldenen Generation, die jetzt nur noch so matt daherkam wie das Display eines brasilianischen Polizistinnen-Smartphones.

Das bisher schönste WM-Tor im Maracanã ist James "Chamez" Rodriguez gelungen, im Achtelfinale der Kolumbianer gegen Uruguay (2:0): Rodriguez ließ sich den Ball auf die Brust tropfen und zimmerte ihn volley unter die Latte. Lionel Messi wiederum hat hier zum erlösenden 2:1 der Argentinier gegen Bosnien-Herzegowina getroffen, danach sagte er sinngemäß, dass sein Trainer Alejandro Sabella eher wenig von Taktik verstehe. Es war vielleicht das wichtigste Tor, es hat einiges ausgelöst bei den Argentiniern, sie haben sich danach zusammengerauft. Ohne dieses Tor wären sie am Sonntag womöglich nicht im Maracanã. Nun können sie in ihrem Nachbarland Geschichte schreiben und man ahnt: Sie sind offen dafür.

Ansonsten? Frankreich gegen Ecuador: 0:0. Belgien gegen Russland: 1:0. Wenn die Leute aus der Fifa-Statistik-Abteilung die Anzahl der Pfiffe ermittelt hätten, die in den zwölf Weltmeisterschafts-Arenen von den Rängen wehten, so wie sie Pass- genauigkeiten und Zweikampfraten notierten - das Maracanã läge in der Pfeifstatistik weit vorne.

Das Herz der Weltmeisterschaft war das Stadion bisher allenfalls wegen seiner Lage. Wenn man es durch die acht Polizeisperren geschafft hat und dann die gewaltigen Rampen hinauf bis in den Oberrang gelaufen ist, hat man einen wunderbaren Blick über Rio de Janeiro, Brasiliens Sehnsuchtsstadt. Oben auf dem Corcovado breitet die Cristo-Statue ihre Arme aus.

Gleich hinter der Tribüne klebt eine Favela am Hang, auch ein beliebtes Fotomotiv. Fans aus Belgien oder Ecuador standen hier am Geländer, in den Händen hatten sie diese knalligen Coca-Cola-Becher, aus denen man in einem Fifa-WM-Stadion zwingend jede Art von Flüssigkeit zu sich nehmen muss, damit die Becher dann später auf allen Bildern drauf sind - und hinter dem Geländer sah man die schiefen Baracken der Armen. Diese zwei Welten haben sich wirklich nur auf den Fotos vermischt.

Das alte Maracanã ist für jene, die in seiner direkten Umgebung in Rios wenig malerischem Norden wohnen, immer auch Teil ihres Lebens gewesen. Mehr als 200 000 Menschen sahen hier 1950 das Uruguay-Spiel, später fanden immerhin noch halb so viele Platz, unabhängig von Hautfarbe, Einkommen oder Herkunft. Eintritt: fünf Reais, weniger als zwei Euro. Aber von den alten Zeiten ist außer der denkmalgeschützten Rundfassade nicht mehr viel geblieben, und die rund 330 Millionen Euro für die Modernisierung werden jetzt über die Eintrittskarten wieder reingeholt, auch wenn gerade keine Weltmeisterschaft ist. Das neue Maracanã können sich viele nicht mehr leisten.

Besucher, die früher schon mal hier waren, sagen, man habe das Estádio do Maracanã mit dem Umbau für die WM seiner Seele beraubt. Andere betrübt mehr, dass man das Stadion einem relevanten Teil von Rios Bevölkerung einfach weggenommen hat - und den Fußball gleich mit. Womöglich sind das die Kollateralschäden eines modernen Kommerzsport-Events. Doch selbst wenn man der Meinung ist, dass ein Stadion auch für Gänsehaut-Momente stehen kann, wenn man nur am Fernseher dabei ist, war die WM im Maracanã bisher nicht sehr ergiebig.

Es müsste jetzt noch irgendetwas Unvergessliches passieren. Es bleibt dafür noch dieses eine Spiel Zeit.

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