EM-Qualifikation: Deutschland - Türkei:Vom Trotzkopf zum Spielmacher

Fußballer-Selbsthilfe in 90 Minuten: Es dauerte mehr als eine Halbzeit, bis Mesut Özil aus der Abneigung der türkischen Fans Kraft schöpfen konnte. Dann aber spielte er - wie Mesut eben.

Boris Herrmann, Berlin

Es ist noch gar nicht so lange her, da hat man hierzulande geglaubt, Fußballatmosphäre würde fortan immer in Plastiktrompeten hergestellt. Findige Menschen entwickelten Trötenfilter für den Fernsehkonsum, Fußballkulturpessimisten verfassten lange Petitionsschriften. Manchmal konnte einen das Gefühl beschleichen, der Untergang des Abendlandes stünde unmittelbar bevor.

EM-Qualifikation Deutschland - Türkei

Vor dem Länderspiel gegen die Türkei hatte Mesut Özil ausführlich dargelegt, warum er sich für das Trikot der deutschen Nationalmannschaft entschieden hat. Vergeblich, die türkischen Fans pfiffen den 21-Jährigen dennoch aus.

(Foto: dpa)

Deshalb gleich zur wichtigsten Erkenntnis jenes Fußballabends im Berliner Olympiastadion, an dem sich Deutschland und die Türkei 3:0 trennten: Die Vuvuzela ist gebannt! Es wird wieder ganz herkömmlich gepfiffen bei Länderspielen.

Es muss nun jeder für sich entscheiden, ob das besser oder schlechter ist.

Schreckliches Heimspiel für Mesut

Man lehnt sich aber nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man unterstellt, dass sich zumindest der deutsche Nationalspieler Mesut Özil am Freitagabend sehnsüchtig das eintönige Bienenschwarm-Gebläse aus Südafrika zurückwünschte. Gäbe es die Vuvuzelas noch, dann hätte er wenigstens nicht gehört, dass er bei jedem Ballkontakt von etwa 40.000 türkischen Fans gnadenlos ausgepfiffen wurde.

Rein akustisch betrachtet, war es ein schreckliches Heimspiel für Mesut Özil. Dabei hatte sich der Mittelfeldspieler aus Gelsenkirchen alle Mühe gegeben, die Anhänger aus dem Land seiner Vorfahren zu besänftigen.

Er hatte im Vorfeld ausführlich und schlüssig erklärt, weshalb es nichts mit Verrat zu tun hat, wenn er für das Land spielt, in dem er geboren und sozialisiert wurde. Vergeblich.

Er lief mit türkeifarbenen Fußballschuhen auf. Vergeblich.

Nach seinem wegweisenden Tor zum 2:0 schlich er regungslos zurück zum Mittelkreis. Erst recht vergeblich.

Für die türkischen Fans war er das Feindbild Nummer eins.

Dass in der Ostkurve, wo sich die deutschen Fans zusammen gekauert hatten, mit zunehmender Spieldauer die Meeeesut-Ööööziiil-Rufe anschwollen, konnte den Gesamteindruck auch nicht mehr entscheidend verändern.

"Das war ein gefühlter Auswärtssieg", bilanzierte der deutsche Kapitän Philipp Lahm später. Und merkte großväterlich an: "Mesut ist Profi genug, um das zu verkraften."

Özil hat sich mit seinen 21 Jahren tatsächlich erstaunlich professionell durch die Nacht gekämpft. Wobei es schon eine Weile dauerte, bis er einen Weg fand, aus der Abneigung Kraft zu schöpfen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie aus Mesut, dem Provokateur, Mesut, der Spielmacher, wurde.

Odyssee der Gefühle für einen 21-Jährigen

In der ersten Phase versuchte er es mit Trotz. Bisweilen hielt er den Ball provokativ lange am Fuß, so als wolle er es darauf ankommen lassen, dass den Pfeifern die Luft ausgeht. Es kam aber dann eher so, dass seinem Trainer, einem ausgewiesenen Freund des schnellen Spiels, die Geduld ausging. Die wild rudernden Arme von Joachim Löw signalisierten Özil nach einer halben Stunde, dass es höchste Zeit war, in die zweite Selbsthilfephase überzugehen.

Fortan spielte er den Ball so schnell weiter, dass es sich gar nicht lohnte, den Mund zum Pfeifen zu spitzen. Damit nahm sich der neue Publikumsliebling von Real Madrid allerdings selbst aus dem Spiel.

Und so musste der krisengeplagte Bayern-Block kurz vor der Pause den Führungstreffer ganz alleine übernehmen. Flanke Lahm, Kopfball Müller, Latte, Kopfball Klose, 1:0. Nicht einmal der Torschütze selbst hätte für möglich gehalten, dass diese Kombination doch noch einmal funktionieren würde. "In der Nationalmannschaft fällt mir so ein Ball einfach auf den Helm", wunderte sich Miroslav Klose, der sich in der 87. Minute auch mit dem 3:0 in die Statistik eintrug und nun mit 57 Treffern auf dem alleinigen zweiten Platz der ewigen DFB-Torschützenliste liegt.

Die beste Antwort auf dem Rasen

Die deutsche Mannschaft hat nun schon neun Punkte in drei Spielen eingesammelt. Am Dienstag in Kasachstan sind drei weitere eingeplant. Die Chancen auf eine unkomplizierte Qualifikation für die EM 2012 in Polen und der Ukraine stehen besser denn je.

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Mesut Özil im Verlauf der zweiten Halbzeit eine dritte Variante ausprobierte, um den Schmähungen aus dem rot-weißen Fanblock zu begegnen. Er spielte einfach wie Mesut Özil - schnell, leichtfüßig, überraschend, unkompliziert. Er hielt den Ball, um Gegner anzulocken, schob ihn aber auch rechtzeitig weiter, um die so entstandenen Freiräume auszunutzen.

Symptomatisch für diese Schaffensphase war jene Szene zwanzig Minuten vor dem Ende, als er Lukas Podolski fünf Meter vor dem Tor zu einem einfachen Abstauber einlud. Bei Podolski aber sind derzeit auch die einfachen Dinge schwer.

Löw ruderte draußen immer noch mit den Armen, allerdings nicht mehr wegen Mesut, dem Spielmacher.

Man hätte Özil gerne zu seinen Erlebnissen im Olympiastadion befragt, er wurde vom DFB jedoch an allen Kameras und Schreibblöcken vorbei durch den Hinterausgang zum Bus gelotst.

Sei es nun wegen jener zunächst nicht weiter definierten Verletzung, die kurz vor dem Ende zu seiner Auswechslung geführt hatte. Oder einfach deswegen, weil man dem jungen Mann nach dieser Odyssee der Gefühle nicht zumuten wollte, dafür auch noch Worte finden zu müssen.

Die beste Antwort hatte Mesut Özil ja ohnehin schon auf dem Rasen gegeben. Als er in der 79. Minute nach einem hübschen Pass von Philipp Lahm ins kurze Eck schoss, hatte er nicht nur die türkische Mannschaft, sondern auch die türkischen Fans bezwungen. Sie zogen schon vor dem Schlusspfiff kleinlaut von dannen.

Und in der deutschen Kurve sangen sie "Auswärtssieg, Auswärtssieg ".

Zeit, die 90-minütige Gefühlsachterbahn vom Freitagabend zu verarbeiten, hat Mesut Özil indes: Wegen einer Prellung am linken Knöchel hat der 21-Jährige am Wochenende trainingsfrei. Beim Abschlusstraining am Montag für das nächste Länderspiel in Kasachstan will Löw seinen neuen Spielmacher dann einem Spieltauglichkeitstest unterziehen.

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