Es ging auf viertel vor acht zu am Freitagabend, und eigentlich hatte dieses Fußballspiel jetzt genug unwirkliche Moment erlebt. Es hatte erlebt, dass ein Spieler sich traute, gegen den kantigen Jonathan Tah aufzumucken. Dass Linksverteidiger Yannick Gerhardt sich dauernd vorne in der Mitte rumtrieb. Oder dass Matthias Ginter von seinem Trainer "Matze" genannt wird. Einiges war geschehen beim U21-Spiel zwischen Deutschland und Russland, aber dann kam die letzte halbe Stunde, und die übertraf alles. In ihr geschah nämlich: nichts. Kein Schuss flog mal eben aus 25 Metern ins Eck, kein Russe erzielte einen Anschlusstreffer, überhaupt wollte kein Tor mehr fallen. Das hatte das Spiel bis dahin auch noch nicht erlebt.
4:3 (3:2) gewann die U21 des DFB am Freitag in Ingolstadt gegen Russland, sie qualifizierte sich vorzeitig für die EM 2017 in Polen. Es war der neunte Sieg im neunten Qualifikationsspiel und für die Mannschaft sogar der elfte Sieg hintereinander (Rekord!) - doch seine Umstände unterschieden sich deutlich von allen Spielen bisher. Ein wildes Toreschießen erlebte das Publikum, und dieses Toreschießen verriet einiges über die Hochbegabten, die sich in der U21 zusammengetan haben. Zum einen, über welch feine Künstler dieser Kader verfügt. Aber auch, warum die meisten Mitglieder dieser Künstlerkolonie wohl vorerst den Zwischenstatus des "Talents" behalten.
"Als neutraler Zuschauer hat das Spiel wahrscheinlich viel Spaß gemacht" - diesen Satz hat Stefan Kuntz hinterher gesagt. Er jedoch war kein neutraler Zuschauer, sondern der DFB-Trainer. "Ein paar graue Haare mehr" habe er bekommen, und seine Stimme sei ein bisschen angekratzt, sagte Kuntz mit angekratzter Stimme. Es war ja so: Hätte Russland ausgeglichen, hätte Deutschland noch eine Art Endspiel austragen müssen um den Gruppensieg, am Dienstag gegen Österreich.
Leroy Sané bekommt etwas Spielpraxis
"Hohe Offensivqualität, ganz viel Kreativität und Spiellaune" hatte Kuntz gesehen. Aber er sah halt auch, dass sein Team "die russischen Stärken zu stark zugelassen hat". Wann immer die DFB-Elf ein Tor schoss, hielt ein russischer Spieler es für eine gute Idee, auch mal eins zu schießen. Das war so, nachdem Kapitän Arnold und Serge Gnabry das 1:0 (12.) und 2:0 (34.) geschossen hatten. Das ging weiter nach dem 3:1 durch Selke (36.) - und nach dem 4:2 per Elfmeter durch Arnold (57.). Erst als das DFB-Team aufhörte zu treffen, stellte der Gegner seinerseits das Toreschießen ein.
"Man muss auch sagen: So haben die Jungs zum ersten Mal zusammengespielt", sagte Kuntz hinterher. Auf fünf Positionen hatte er seine Mannschaft umgebaut, nach dem 1:0 gegen Finnland Anfang September. Von Beginn an spielten die zuletzt A-Elf-erprobten Tah, Ginter, Leroy Sané und Niklas Süle, und alle DFB-Verantwortlichen waren bemüht, dies nicht als Degradierung aussehen zu lassen. "Na klar ist mein Ziel, das nächste Mal wieder bei der A-Nationalmannschaft zu sein, aber ich habe auch hier viel Spaß", sagte Sané. Die Berufung des Manchester-City-Profis war auch deshalb interessant, weil sie etwas über die Funktion der U21 verriet. "Als Dienstleister der Spieler" definierte Kuntz sie. Schon vor der Partie hatte er gesagt: "Wir Trainer überlegen uns, was für die Spieler am besten ist und wo sie zu ihren Einsätzen kommen." Was im Falle von Sané wohl hieß, dass er Spielpraxis bekommen sollte - in Manchester hat er in der Liga erst 52 Minuten gespielt.
Gegen Österreich am Dienstag will Kuntz "eine andere Startformation" aufstellen; was das genau bedeutet, verriet er nicht. Man darf gespannt sein, inwiefern Kapitän Maximilian Arnold mitwirkt. Der zweifache Torschütze hatte am Freitagabend ebenfalls den Unterhaltungswert des Spiels erkannt. Er sagte: "Ich hätte mich auch gern mit 'ner Bratwurst auf die Tribüne gesetzt."