Fußball:Wer ist fit genug für die EM?

Löw und Draxler

Joachim Löw: Gezwungen zum Aussortieren

(Foto: dpa)

Bundestrainer Löw muss sich heute auf seinen endgültigen EM-Kader festlegen - der hängt vor allem von der Perspektive der Verletzten, Bastian Schweinsteiger und Mats Hummels, ab.

Von Christof Kneer, Augsburg

Noch auf dem Podium in Augsburg beschloss Joachim Löw, dass er die Nominierungsfrist nicht bis zum Ende ausreizen würde. Bis Dienstagnacht, null Uhr, hat der Bundestrainer theoretisch ja noch Zeit, um seine Grausamkeiten zu begehen, bis dahin wird er vier Spieler aus seinem 27-Mann-Kader streichen müssen. Aber offenbar will Löw diesen für einen eleganten Herrn doch eher unangenehmen Auftrag so schnell wie möglich hinter sich bringen, und so kündigte er also an, um "23.59 Uhr und 45 Sekunden" zu nominieren.

Löw fällt es erkennbar schwer, für diesen rituellen Akt noch solche Gefühle zu entwickeln wie die Journalisten. Die Journalisten sind berufsbedingt immer ein bisschen aufgeregt, wenn das Ende der Frist näher rückt, sie interviewen sich dann gegenseitig und tauschen so lange Tendenzen aus, bis sie sich fast schon zu Nachrichten verdichten. Es ist ein Journalistensport: Wer hat alle Streichkandidaten richtig, bei wem waren es brisante Geheim-Informationen, und bei wem war es nur Glück?

Löw ist da nüchterner. Es macht ihm keinen Spaß, Menschen zu enttäuschen, aber er weiß, dass halt alle zwei Jahre einer diesen Job machen muss, und dass dieser eine halt er ist. Außerdem hat sich Löw mit den Jahren die Fähigkeit angeeignet, bei der Bestellung seines endgültigen 23er-Aufgebots die kleinstmögliche Enttäuschungssumme herzustellen, er enttäuscht meistens die, die insgeheim ohnehin damit rechnen.

Löw hat immer ein Motto

An dieses Muster hält sich Löw, seit er 2008 erstmals als alleinverantwortlicher Trainer den Rotstift zückte. Damals traf es Sportler namens Marko Marin, Jermaine Jones und Patrick Helmes. Sie waren damals glücklich, überhaupt zum erweiterten Kader zu zählen und trugen die verräterischen Rückennummern 24, 25 und 26.

Diesmal sind Julian Brandt, Leroy Sané, Julian Weigl und Joshua Kimmich glücklich, zum erweiterten Kader zu gehören, und sie tragen die Rückennummern 24, 25, 26 und 27.

Man wird also nicht berühmt werden, wenn man nach dem 1:3 im vorletzten EM-Testspiel gegen die Slowakei die vier jüngsten Kadermitglieder als Streichkandidaten favorisiert, aber das heißt nicht, dass man damit richtig liegt. Zu einfach möchte Löw es den Propheten doch nicht machen, und außerdem denkt er sich für jedes Turnier ein Motto aus, dem er alles, auch sein Nominierungsmuster, unterordnet.

Vor zwei Jahren folgte er der These, dass in Brasilien das heißeste und feuchteste Turnier der Weltgeschichte steigen würde, also erfand er die Spezies der "Spezialkräfte", die man nach 70 Minuten einwechseln kann, wenn die Stammkräfte dehydriert am Boden liegen. So heiß und feucht war es dann zwar gar nicht, aber das mit Spezialkräften hat sich insofern rentiert, weil sie zum Beispiel fürs einzige Tor im WM-Finale zuständig waren (Flanke Schürrle, Tor Götze).

Löw braucht zwei Mannschaften

Diesmal hat Löw ein Motto ermittelt, das seiner Rückennummer 25 nützen könnte. Er werde im Laufe des Turniers zwei Mannschaften brauchen, sagt Löw zurzeit gern; er rechnet damit, dass bis zum Achtelfinale grimmig defensive Gegner warten, bevor es ab dem Viertelfinale gegen Teams geht, die sich selbst die Mühe machen, Fußball zu spielen. Und mindestens gegen die grimmigen Gegner, meint Löw, brauche er Spieler, denen es nichts ausmacht, keinen Raum zu haben. Er braucht Spieler, die sich zum Dribbling erst herausgefordert fühlen, wenn sie zwei Ukrainer oder vier Nordiren vor sich haben. Er braucht Spieler wie die Rückennummer 25, wie Leroy Sané, von dem Löw zuletzt oft schwärmte.

Man kann nicht behaupten, dass sich Sané, 20, aufgedrängt habe gegen die Slowakei, abgesehen davon, dass es auch ihm in der zweiten Hälfte sehr versiert gelang, nicht zu ertrinken. Dieses Spiel allein sei nicht entscheidend für die Nominierung, sagte Löw später dementsprechend weise, er werde auch "die letzten Tage, Wochen und Monate" berücksichtigen, zumal in den letzten Tagen, Wochen und Monaten deutlich weniger die Welt unterging als in der zweiten Halbzeit in Augsburg. Hätte Löw allein dieses Spiel herangezogen, hätten die Rückennummern 24 und 26, Julian Brandt und Julian Weigl, guten Grund gehabt, vor den zuständigen Gerichten auf Wettbewerbsverzerrung zu klagen. In den reißenden Fluten war es kaum möglich, EM-tauglich zu dribbeln und zu passen.

Dennoch gelten Brandt und Weigl automatisch als Favoriten für eine mit warmen Worten verzierte Heimreise, ebenso Kimmich, der seit einiger Zeit doch Grenzerfahrungen macht auf dem hohen Niveau, mit dem er inzwischen in Berührung kommt. Allerdings hat Löw nach dem 1:3 auch durchblicken lassen, dass es für ihn bedeutendere Fragen gibt als jene nach den Kadernummern 20 bis 23. Er werde am Montag mit seinem Mitarbeiterstab in Klausur gehen, kündigte er an, man müsse "eine Standortbestimmung machen, wie es bei einigen Spielern aussieht". Er wolle "schon ein gewisses Okay vom Arzt, dass das in den nächsten Wochen keine Risiken birgt".

Er wird bereit sein, zu warten

Frag den Doktor: Der berühmte Guardiola-Satz wird über Löws Kader-Architektur entscheiden. Löw weiß ja, dass es nicht turnierentscheidend sein wird, ob er nun Can, Mustafi, Rudy oder den angeschlagenen Bellarabi streicht, auch Brandt und Weigl werden ihn nicht zum Europameister machen. Löws Turnier-Erfahrung hat ihn gelehrt, dass er seine Achse braucht, Europameister wird er nur mit Neuer, Boateng, Khedira, Kroos, Özil und Müller, und so wird nun alles davon abhängen, ob er den verletzten Mats Hummels und Bastian Schweinsteiger zutraut, im Lauf des Turniers noch eine zentrale Rolle spielen zu können.

Wer Löw kennt, ahnt, dass er bereit ist, auf beide zu warten - was Weigls und Kimmichs Chancen verringern würde, zumal der jüngst verletzte Sami Khedira in Augsburg einen stabilen Eindruck hinterließ. Auch Mario Götze und der Elfmeter-Torschütze Mario Gomez wirkten so erstaunlich präsent, dass Löw sie womöglich gleich in seine Achse einbauen kann.

So weit erst mal die Erkenntnisse aus Augsburg. Alles Weitere dann um 23.59 Uhr und 45 Sekunden.

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