EM-Auslosung:Große Gegner, starke Vorurteile

Deutschland verlässt das traditionelle Losglück: In einer Gruppe mit Holland, Tschechien und Lettland.

Lissabon - Man hat Rudi Völler schon lockerer erlebt als gestern im Atlantik-Pavillon von Lissabon, dennoch wirkte der deutsche Teamchef vorbereitet auf den Ernstfall. Es hätte bei der Auslosung zum Euro-Turnier 2004 kaum schlimmer kommen können. Bereits beim Auftaktspiel gegen den Uralt-Rivalen Holland trifft das DFB-Ensemble am 15. Juni im "Stadion des Drachens" auf einen Titelkandidaten, vier Tage später wartet in der kleineren Arena Portos der geheimnisvolle EM-Neuling Lettland, bevor es dann in Lissabon zum Showdown mit der neuen Großmacht Tschechien kommt. Die Herren Nedved, Rosicky und Koller zählen neben Zidane und Co. zum Stärksten, was Europas Fußball derzeit zu bieten hat.

Sicherlich wäre es Deutschlands berühmtestem Rudi lieber gewesen, wenn Portugals Idol Eusebio die kleine Kugel aus Topf zwei mit dem Zettelchen Deutschland drin etwas früher aus der Kristallvase gezogen hätte. Der einstige Torjäger hätte dann seinen ehemaligen Ausbilder Otto Rehhagel und dessen Griechen getroffen, mit ziemlicher Sicherheit der schwächste der 16 Turnierteilnehmer, dazu die zuletzt launischen Russen und ein Gastgeberland, deren Stärke sich erst noch beweisen muss - in einem solchen Feld hätten sich die Nachfolger des dreimaligen Welt- und Europameisters schon durch die erste Runde mogeln können. Ein solcher Begriff aber verbietet sich bei den Gegnern von Gruppe D automatisch. Zwar werden im Sommer noch manche große Augen machen, warnt Völler an diesem letzten November schon mal die Vertreter jener Länder, die ihr Team bereits jetzt im Viertelfinale sehen würden.

Womöglich überkommt diese Einsicht auch noch Völlers Chef. DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder hat in aller Bescheidenheit und oft genug das Erreichen des Halbfinales verlangt. In Portugal hat Multi-Funktionär Mayer-Vorfelder das Euro-Ziel wenigstens etwas relativiert: "Wenn du diese Vorrunde über- stehst, kannst du auch ins Halbfinale kommen." Vor allem gegen die Holländer, schwant dem Boss der DFB-Delegation, müsse man sich ganz warm anziehen, "falls die noch einmal so Gas geben wie im Play-Off-Spiel mit den Schotten". Das Spiel endet bekanntlich 6:0. Auch Völler hat imponiert, wie das Oranje-Team zuletzt und auf einen Schlag gleich alte Klasse und neuen Schwung entdeckt hat; allerdings dürfe das jetzt nicht so weit führen, "dass wir die Holländer und die Tschechen zu stark reden".

Die Frage, wer vor wem nun mehr Angst oder Respekt hat, lässt sich im Falle der Holländer schon diese Woche beantworten. Das für den 18. Februar in Rotterdam terminierte Freundschaftsspiel wird nach einem Telefonat der beiden Verbandspräsidenten wohl abgesagt. Mayer-Vorfelder und auch Völler hätten den Ernstfall mit dem Erzrivalen gerne noch mal getestet, den Holländern aber scheint das sportliche und erst recht das psychologische Risiko des traditionellen Duells momentan zu hoch. Mit dieser Holland-Spiel-Debatte hat schneller als erwartet der Countdown zur EM begonnen. Neben den "zwei Weltklassegegnern" (Völler) brachten die Loskugeln auch noch eine dritte schlechte Nachricht für die Deutschen zu Tage. Die Vizeweltmeister müssen von ihrem exquisiten Golf-Hotel an der Algarve drei Tage lang zuschauen, wie das Turnier sein Tempo aufnimmt. "Nichts ist schlimmer als auf den ersten Einsatz zu warten", weiß Völler schon aus Zeiten, an denen er selbst noch für Deutschland stürmte. Und für den Trainer Rudi war der 8:0-Auftaktsieg gegen Saudi Arabien zum Start der letzten WM in Japan die Grundlage dafür, dass Kahn und Kollegen danach vier Wochen lang so gut in Fernost klargekommen sind. Aus dieser Erfahrung bezieht der Teamchef seine Zuversicht. In dem Interview-Marathon durch das riesige Medienzentrum des Turniers hat Völler deshalb einen Satz immer wieder gesagt: "Wir dürfen uns nicht verstecken." Nach seiner Einschätzung steht die Mannschaft, die ganz nebenbei auch die kontinentale Blamage korrigieren soll, die in Belgien und Holland sein Vorgänger Erich Ribbeck und dessen Alpha-Tier Lothar Matthäus verantworteten, schon ein Stück besser da als in der Fifa-Rangliste oder in den Vorstellungen der Kritiker. Völler rechnet mit der Rückkehr vieler routinierter und noch verletzter Spieler; ob die nun Hamann, Frings oder Metzelder heißen. Außerdem glaube er an das Potenzial der Jungen, "die zuletzt gute Leistung gebracht haben, und sich mit der Erfahrung noch mehr steigern werden". In erster Linie war damit Felix Magaths Stuttgarter Talentschuppen mit Kuranyi, Hinkel und Lahm gemeint. Als Völler darüber sprach, guckte er nicht nur ernst, sondern fast aggressiv. Er scheint überzeugt von seiner zweiten Turnier-Mission. Und offenbar gefällt es ihm, Vorurteile zu widerlegen.

Martin Hägele

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