EM-Aus der Niederlande:Planlos wie Andorra

Netherlands v Czech Republic - UEFA EURO 2016 Qualifier

Ratlos - Robin van Persie sieht sich und seine Elftal in die Knie gezwungen.

(Foto: Dean Mouhtaropoulos/Getty Images)
  • Die Niederlande verpassen die EM, der holländische Verband steht zunehmend in der Kritik.
  • Doch dieser erkennt keinen Handlungsbedarf.
  • Geht alles so weiter wie bisher?

Von Ulrich Hartmann, Amsterdam

In der schwärzesten Nacht der jüngeren niederländischen Fußballgeschichte hat es eigentlich nur einen Satz von tieferer Bedeutung gegeben. Dieser Satz wurde wehmütig von ungefähr 40 000 Zuschauern gesungen. In einem Schmachtfetzen namens "Blut, Schweiß und Tränen", der vor jedem Heimspiel der Nationalmannschaft als letztes Lied aus den Lautsprechern dröhnt, noch nach der Nationalhymne, singt der längst verstorbene Volksbarde André Hazes: "Wenn dein Ruhm verblasst, musst du schauen, wer dich noch kennt."

Im Anschluss spielten die Niederländer ihren Fußball der Gegenwart: ziellos, freudlos, kampflos, erfolglos. Ein 2:3 gegen Tschechien besiegelte am Dienstag in Amsterdam, dass die Niederlande bei der EM 2016 in Frankreich nicht dabei sein werden. Oranjes Ruhm ist verblasst, die Fußballwelt erkennt Hollands Voetbal nicht mehr wieder.

"Ich habe nicht die Absicht, zurückzutreten"

Eine halbe Stunde vor dem Ende twitterte der frühere englische Stürmer und heutige TV-Moderator Gary Lineker: "Gütiger Himmel, Holland hat sich in Andorra verwandelt." Hätten die Verantwortlichen dieser unvorteilhaften Verwandlung die Schmach auch nur annähernd so empfunden wie Lineker, dann hätten sie noch in der Nacht beschlossen, dass es so nicht weitergehen kann. Dass die Mannschaft jetzt schnell eine Erneuerung benötigt, damit sie nicht auch das nächste Ziel versäumt: die WM 2018 in Russland. In den Achtzigerjahren ist den Niederländern mit der EM 1984 und der WM 1986 ein solcher Doppel-Schlag schon einmal widerfahren.

Doch der Verbandsdirektor Bert van Oostveen, der Nationaltrainer Danny Blind und auch Führungsspieler wie Wesley Sneijder und Robin van Persie pochen unisono darauf, man möge bitte in dieser Besetzung weitermachen - es könne ja nicht alles falsch gewesen sei. Man habe viel Pech gehabt. Und der erst kurz im Amt befindliche Blind habe noch eine Chance verdient. "Danny macht weiter", behauptet van Oostveen. "Er soll bleiben", rät Sneijder. "Ich habe nicht die Absicht, zurückzutreten, denn ich glaube an dieses Team," sagt Blind angesichts seines bis 2018 gültigen Vertrags. Auch die altgedienten Spieler Sneijder, 31, van Persie, 32, und Klaas-Jan Huntelaar, 31, verkniffen sich nach dem Spiel einen demonstrativen - und womöglich aufrüttelnden - Rücktritt.

Weiter so also. Dem Königlich-Niederländischen Fußball-Bund (KNVB) mangelt es in der Schockstarre am Mut zur Erneuerung. "Van Oostveen ist ein Mann ohne Fußball-Knowhow", schimpft zwar das niederländische Fußballgewissen Johan Cruyff - in einer Zeitungskolumne. Aber was die Nation empfindet und was im Verband geschieht, das sind zwei Paar Stiefel. Dass Louis van Gaal die Niederländer bei der WM 2014 in Brasilien auf Platz drei geführt und dass die nahezu selbe Mannschaft danach - zunächst unter Guus Hiddink, dann unter Danny Blind - kein Bein mehr auf die Erde bekommen hat, das ist ein Rätsel, dessen Lösung wohl vor allem auf der Trainerbank zu finden ist.

Demaskiert gegen kleinere Gegner

Der resolute van Gaal hatte das traditionelle 4-3-3-System über den Haufen geworfen mit seiner speziellen, im Land zunächst angefeindeten Idee von einem defensiv geprägten 5-3-2. Hiddink und Blind kehrten bewusst zu den Wurzeln zurück - aber ohne jeden Erfolg.

In seinen vier Spielen (0:1 gegen Island, 0:3 in der Türkei, 2:1 in Kasachstan, 2:3 gegen Tschechien) hat Blind weder taktisch noch emotional Einfluss auf die lethargische und planlose Mannschaft nehmen können. Als "Demaskierung der niederländischen Elf und bittere Parodie auf Spitzenfußball", diskreditiert die Zeitung de Volkskrant den gegenwärtigen holländischen Fußball. "Uns fehlt schlichtweg die Qualität", sagt der Schalker Stürmer Huntelaar schonungslos.

"Ein Lächeln mit Tränen"

Solch eine Diagnose wirft kein gutes Licht auf den einst taktisch und technisch als avantgardistisch belobigten niederländischen Fußball. Die Talentschmiede von Ajax Amsterdam hat die Nationalelf ehedem zuverlässig versorgt und zu jenem Ruhm geführt, der heute nur müde nachhallt. Als Konsequenz auf zuletzt viele verletzungsbedingte Ausfälle hat Blind den Ajax-Code noch einmal neu zu programmieren versucht und mit Amsterdamer Talenten namens Jairo Riedewald, 19, Kenny Tete, 20, und Anwar El Ghazi, 20, sowie vier weiteren U21-Spielern aus anderen Klubs eine kurzfristige Verjüngung unternommen.

Doch die jungen Spieler waren damit überfordert, die ganze Nation zu erretten. So ein Generationswechsel kann nicht übers Knie gebrochen werden. Der KNVB muss nun entscheiden, ob er die Erneuerung ab sofort einleitet - oder erst 2018. Die Teilnahme an der WM in Russland mit Frankreich und Schweden in der Qualifikationsgruppe ist für die Niederlande allerdings auch kein Selbstläufer.

Vom treuen und stets auf gute Laune programmierten Publikum in orangefarbener Einheitsmontur hat die enttäuschende Mannschaft im Laufe des Dienstagabends kaum Kritik vernommen. Nur vereinzelte Pfiffe. Auch in dieser Hinsicht halten es die Niederländer nämlich mit ihrem geliebten Volkssänger, in dessen Blut-Schweiß-und-Tränen-Hymne es melancholisch heißt: "Ein Lächeln mit Tränen - so fühle ich mich heute."

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