Eisschnelllauf:Laufen lernen

Der nationale Verband hat seine Führung ausgetauscht, präsentiert ein neues Trainingskonzept und eine echte Strategie für die Zukunft. In den kommenden Jahren wird es trotzdem noch keine großen Erfolge geben.

Von Volker Kreisl, Inzell

Manches in der neuen Zeit ist eben kompliziert, und deshalb erhebt sich Jan van Veen aus dem Sessel und stellt sich neben einen Tisch. Er mimt jetzt einen Eisschnellläufer in Aktion, er stößt sich mit dem rechten Fuß ab, und damit sein Oberkörper nicht nach links fällt, stützt er sich auf dem Tisch ab. Dann leitet er den nächsten Schritt ein, aber seine Beine stehen erst mal parallel, womit viel Schwung und Zeit verloren gehen. "Das", sagt van Veen, "ist das Problem."

Das deutsche Eisschnelllaufen steckt im Umbruch. Es hat eine neue Präsidentin, Stefanie Teeuwen, und seit zwei Jahren einen neuen Sportdirektor, den ehemaligen Radprofi Robert Bartko. Und es hat seit März auch Jan van Veen, den neuen Cheftrainer. Er kommt aus dem Eisschnelllauf-Land Holland, hat viele Jahre Weltmeister und Olympiasieger trainiert und vor seinem offiziellen Amtsantritt einen Winter lang die Deutschen beobachtet. Vor dem Saisonstart am Freitag mit dem Weltcup in Harbin/China will van Veen eigentlich nicht über die Methoden der Vorgänger sprechen, aber weil er für sauberes Techniktraining bekannt ist, und jeder wissen will, warum, erklärt er, was ihm aufgefallen ist. Unter anderem, dass die Deutschen Zeit liegen lassen, weil sie beim Beinwechsel das Gewicht falsch verlagern.

Das zweite Problem ist aber, dass auch sein neuer Arbeitgeber, die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft, beim Wechsel von einem Bein aufs andere gerade keine Zeit liegen lassen darf. Die DESG ist, zusammen mit den Curlern, der Problemverband Nummer eins im deutschen Wintersport. Von den Olympischen Spielen 2010 in Vancouver hatte sie zwar noch vier Medaillen nach Hause mitgebracht. In Sotschi 2014 gelang aber kein Podestplatz mehr, ebenso wenig bei der vergangenen WM 2016, und die Aussichten für Olympia 2018 in Pyeongchang sind düster. Der deutsche Dachverband DOSB macht Druck, er verlangt Reformen und will Medaillen-Potenzial sehen von dieser DESG, die zuletzt fast nur noch durch Graben- und Konfliktpotenzial aufgefallen war.

EISSCHNELLLAUF Bente KRAUS am 28 10 2016 während der Deutschen Meisterschaft über 1 500 m Frauen i

Resultat der neuen Anstrengungen: Die Berlinerin Bente Kraus profitiert offenbar vom Training des neuen Bundestrainers Jan van Veen. Kürzlich wurde sie deutsche Meisterin über 3000 Meter, ab Freitag startet sie beim Weltcup in Harbin in China.

(Foto: Ernst Wukits/imago)

Die Struktur im Verband war bisher "regional zerfasert", sagt Sportdirektor Bartko

Jeder verfolgte seine eigene Philosophie, Differenzen gab es zwischen Landesstützpunkten und Bundeskadern, zwischen Jugendtraining und Erwachsenentraining, oder auch zwischen Trainingsgruppe und Trainingsgruppe. Nicht selten wurde gestritten zwischen Berlin, Erfurt und Inzell - und innerhalb der Nationalmannschaft, die manchmal nur nach diplomatischen Anstrengungen als Team aufs Eis trat. Als "regional zerfasert" bezeichnet Bartko die bisherige DESG-Struktur, er sagt das aber nur nebenbei, denn Bartko und van Veen schauen eher in Richtung einer erfolgreichen Zukunft.

Was Jan van Veen am Trainerberuf reizt, ist weniger das Einsammeln von Medaillen als der Lernprozess, also die lange Entwicklung vom Neuaufbau bis zum Einsammeln. Bei seiner Präsentation am Tisch wirkt das Lernen ganz einfach: Er neigt den Oberkörper früher auf die andere Seite, steigt schneller aufs linke Bein und kann sich eher wieder abdrücken. Für die deutschen Eisläufer ist das schwieriger. Sie müssen ein gewohntes System aufgeben, eine selbstverständliche Technik, außerdem haben sie auf dem Eis keinen Tisch dabei. Auch wenn Athleten wie Bente Kraus, die neue deutsche Meisterin über 3000 Meter, mit der Umstellung offenbar zurechtkommen, so dauert es länger, bis die Kufe optimal auf dem Eis gleitet. Kraus gehört zur Trainingsgruppe eins, alle machen sich nun mit neuen Aspekten vertraut, die nächsten Generationen sollen sich gar nicht mehr umstellen müssen.

Van Veens Konzept klingt radikal, ganz nach dem Geschmack der Leistungsstrategen beim DOSB. Denen, die bereits erfolgreich Sonderwege beschreiten - also Claudia Pechstein, Patrick Beckert und Nico Ihle -, lässt er ihre Freiheit. Alle anderen aber arbeiten gemeinsam in einer Gruppe. Das Training ist hart, weniger, weil die Umfänge so hoch sind, sondern weil es intensiv ist. Van Veen sagt: "Mein Programm ist schwer." Es funktioniere nur, wenn die Läufer wüssten, wo sie stehen. Er will auch nach Wettkämpfen so schnell wie möglich Fehler ansprechen und Bewegungen optimieren. "Die Athleten", sagt van Veen, "sollen jeden Tag spüren, was los ist." Es ist ein neuer Denk- und Bewegungsansatz, und er soll bis hinunter zu den Kindern gelehrt werden.

Bekannte Anführer

Eisschnelllauf-Weltcup/Harbin (11.11. bis 13.11.2016)

Das Deutsche Aufgebot:

Frauen: Claudia Pechstein (Berlin), Bente Kraus (Berlin), Isabell Ost (Berlin), Roxanne Dufter (Inzell), Gabriele Hirschbichler (Inzell).

Männer: Patrick Beckert (Erfurt), Moritz Geisreiter (Inzell), Joel Dufter (Inzell), Nico Ihle (Chemnitz), Denny Ihle (Chemnitz).

Bartko will mehr Jugendtrainer ausbilden, dafür hat er Spezialisten engagiert. Er will banale Maßnahmen treffen, etwa die Eiszeiten in den Hallen effizienter nutzen. Und er will neue Wege gehen, zum Beispiel Eisschnelllauf-Kinder und Short-Track-Kinder zusammenführen, weil die einen auf der Langbahn Kondition kriegen, die anderen auf der Kurzbahn Kurven-Technik lernen und alle mehr Spaß haben. Überhaupt, das Eisschnelllauf-Training der Kinder soll mehr sein als ein "reduziertes Erwachsenenprogramm", sagt er. Bartko will den Kindern erst mal spielerisch Schlittschuhlaufen vermitteln, sie durch Hindernis-Parcours' schicken, ihre "Leidenschaft wecken" - und dann erst die Zeiten stoppen und vergleichen.

Vorerst aber hängen die Eisschnellläufer in der Luft, weil niemand weiß, wie viel Zeit dieser große Schritt in die Zukunft in Anspruch nimmt, ob wirklich alle mitziehen - und ob das Geld reicht, um die neuen Fachkräfte zu bezahlen. Und die sehr effizient auftretende deutsche Sportpolitik hat nicht unendlich Geduld. Wenn gut klingende Pläne nicht zu Medaillen führen, werden Mittel wieder gekürzt. 2018 erwartet wohl noch niemand einen breiteren Erfolg, 2022 wird es dann aber Zeit. Bis dahin müssen die bereits bekannten Läufer die nötigen Leistungen beisteuern, auch wenn sie gar nicht für den Umbruch stehen: Patrick Beckert, Claudia Pechstein, Nico Ihle.

Robert Bartko ahnt zwischendurch, dass seine Visionen von der Leidenschaft und vom altersgerechten Lernen vielen in diesem Verband fremd sind. Aber seine Antwort ist ganz einfach: "Die bisherigen Maßnahmen haben nicht zum Erfolg geführt. Also müssen wir was verändern."

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