Eishockey-WM:Junge mit Zahnlücke

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Zieht die Blicke auf sich - nicht nur in Russland: Alexander Owetschkin, der herausragende Akteur der Gastgeber. Am Donnerstagabend bekommt es die deutsche Auswahl im Viertelfinale nicht nur mit ihm zu tun. (Foto: Maxim Shemetov/Reuters)

Das deutsche Eishockey-Nationalteam trifft im WM-Viertelfinale auf Gastgeber Russland - die Auswahl von NHL-Profi Alexander Owetschkin verfolgt einen großen Auftrag.

Von Johannes Kirchmeier, Moskau/München

800 Spiele hatte "Alexander der Große", wie sie ihn in den USA nennen, bis Anfang Januar in der nordamerikanischen Profiliga NHL gerade hinter sich gebracht, dann war es soweit: Alexander Michailowitsch Owetschkin, 30, im Dienst der Washington Capitals, Markenzeichen Zahnlücke mittig in der oberen Reihe, knackte in seiner 801. Partie als erster Russe die 500-Tore-Marke in der stärksten Eishockey-Liga der Welt. Zwei Jubelminuten folgten: Die Mitspieler umarmten Owetschkin, die Zuschauer zogen ihre Hüte und ließen sie aufs Eis segeln.

Mittlerweile steht der Russe bei 525 Toren - und Eishockey-Karrieren dauern ja bekanntlich etwas länger als die Karrieren in anderen Sportarten. Owetschkin hat deshalb die Chance, der erste Spieler zu werden, der Wayne Gretzkys Rekord von 894 NHL-Treffern übertrumpfen könnte. "Die ersten 500 Tore sind die leichteren", sagte der Kanadier Gretzky selbst, dann fügte er an: "Falls es einen Jungen da draußen gibt, der es tun kann, dann ist es er."

Auf genau diesen Jungen trifft nun die Auswahl des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) im Viertelfinale der Weltmeisterschaft. 27 WM-Titel haben "Alexander der Große" und seine Vorgänger bereits gewonnen. Es erklärt sich von selbst, wer der Favorit ist am Donnerstagabend in Moskau (19.15 Uhr/Sport 1), Owetschkins Geburtsort. "Wir dürfen nicht versagen", sagt der russische Sportminister Witali Mutko, der nichts anderes als den 28. Titelgewinn von seiner Eishockey-Auswahl fordert. Positive Schlagzeilen von der Heim-WM, so hofft er, könnten die zahlreichen Doping-Vorwürfe der jüngsten Vergangenheit überlagern. Auch die Eishockey-Mannschaft der Frauen, die Russland bei Olympia 2014 in Sotschi vertrat, ist betroffen.

"Warum soll keine Überraschung gelingen?", fragt der ehemalige Nationalspieler Erich Kühnhackl

Der Plan Mutkos könnte durchaus aufgehen. Verloren hat die "Sbornaja" lediglich den Auftakt gegen Tschechien (0:3). Seitdem hat sie sechs Siege aus sechs Spielen erwirtschaftet. Die Mannschaft kommt mit dem Druck beim Heimturnier inzwischen gut zurecht. Es macht den Anschein, als hätte sie aus ihrem Scheitern vor zwei Jahren in Sotschi gelernt: Damals schied Russland als Turnierfavorit überraschend im Viertelfinale gegen Finnland aus.

In Sachen Gegnerstudium dürfte allerdings am Mittwoch noch etwas zu tun gewesen sein für Trainer Oleg Snarok, der früher in Landsberg, Freiburg und Heilbronn spielte. Stürmer Artemi Panarin meinte über die DEB-Auswahl am Dienstagabend nur: "Ich kann nichts über sie sagen." Dem Kollegen Pawel Dazjuk ging es ähnlich: "Ich habe nicht gesehen, wie sie spielen." Der Trainer selbst sagt: "Deutschland ist eine gute Mannschaft. Sie sind psychisch sehr gut vorbereitet und spielen mit viel Druck." Stellt sich die Frage, auf welchen Viertelfinalisten bei einer Eishockey-WM das nicht zutreffen sollte.

Und so könnte die Hoffnung des DEB-Teams sein, dass ihr Trainer besser vorbereitet ist: Marco Sturm, 37, kennt die stärksten russischen Spieler noch aus der NHL, wo er bis 2012 selbst spielte. Den torhungrigen Mann mit der markanten Zahnlücke und einem jährlichen Einkommen von etwa 7,4 Millionen Euro kennt er sogar sehr gut. Gemeinsam mit Owetschkin stürmte er 2011 für die Washington Capitals. Außerdem kann Sturm mit seinen vier NHL-Profis Thomas Greiss, Christian Ehrhoff, Korbinian Holzer und Leon Draisaitl nun auf einen stärkeren Kader als seine Vorgänger zurückgreifen. "Die deutsche Mannschaft hat großes Potenzial, warum soll keine Überraschung gelingen?", fragt die Eishockey-Legende Erich Kühnhackl.

Das DEB-Team reiste am Mittwoch von Sankt Petersburg, wo sie ihre Gruppenspiele bestritten hatte, zum Spielort Moskau. "Da wartet der Topfavorit auf uns. Die Stimmung wird aufgeheizt sein. Aber für solche Momente spielen wir Eishockey", sagt Ehrhoff. Deutschland kam erst zweimal unter die besten Vier bei einer WM - 1953 und 2010. Ehrhoff weiß, wie schwer die Partie in Moskau werden wird.

Aber es ist ja nun auch nicht so, dass einem 525-Tore-Mann immer gleich alles gelingt: Nach der Umstellung von der kleineren Eisfläche in Nordamerika auf die größere in Europa hapert das Angriffsspiel bei Owetschkin noch. Gerade einmal eine Vorlage kann er aus seinen bisherigen drei Spielen vorweisen. Dennoch wurde ihm jüngst eine ganz eigene Art der nationalen Bewunderung zuteil: Die Künstlerin Irina Romanowskaja, die ihre Brüste als Pinsel benutzt und Porträts von Russlands Präsidenten Wladimir Putin und Oscar-Preisträger Leonardo DiCaprio malte, hat nun auch Torjäger Owetschkin porträtiert.

© SZ vom 19.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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