Eishockey:Schön kalt in der Wüste

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Von der neuen NHL-Saison erhoffen sich die Kanadier vor allem eines: Es darf sich nicht wiederholen, dass keines ihrer Teams die Playoffs erreicht.

Von Thomas Hahn, Montréal

Beim Stand von 4:1 wird es noch mal spannend für den Versicherungskaufmann André Senecal. Senecal sitzt an der Bar des Restaurants La Cage direkt an der großen Heimspielhalle seines Herzensklubs Montréal Canadiens. Auf den Bildschirmen läuft die Live-Übertragung vom Saison-Auftakt in der Nordamerikanischen Eishockey-Liga (NHL) bei den Buffalo Sabres. Andrew Shaw hat gerade das vierte Tor erzielt, und dieser Treffer versetzt Senecal und die anderen Montréal-Fans in einen Zustand freudiger Anspannung. Die Politik des La Cage sieht nämlich Frei- Chicken-Wings vor, wenn die Canadiens in einem Spiel fünf Tore schaffen. Acht Minuten sind noch zu spielen. Da geht was.

Das fünfte Tor kam dann nicht mehr, aber das hat André Senecal seinen Canadiens natürlich nicht übel genommen. Ihr Auftritt war souverän. Sie zeigten den nötigen Biss nach dem 1:2 durch Sabres-Stürmer Matt Moulson zu Beginn des dritten Drittels und legten sofort nach. "Ich bin froh, dass sie vier Mal getroffen haben", sagt Senecal. Und Al Montoya hat ihn überrascht, der neue Reservetorwart, der die grippekranke Nummer eins Carey Price würdig vertrat. Lauter gute Omen - die allerdings auch nötig sind.

Barack Obama empfängt die Pittsburgh Penguins im Weißen Haus. Immerhin war der Kanadier Sidney Crosby wertvollster Spieler des Stanley-Cup-Siegers 2016. (Foto: UPI Photo/imago)

Die Canadiens haben etwas gutzumachen. Alle sieben kanadischen Teams in der NHL haben etwas gutzumachen. Denn kein einziges von ihnen hat vergangene Saison im Wettbewerb mit den 23 US-Klubs den Sprung ins 16er-Feld der Meisterschaftsendrunde geschafft. Den Stanley-Cup gewannen dann zwar die Pittsburgh Penguins mit dem kanadischen Idol Sidney Crosby als wertvollstem Spieler - aber das war nur ein schwacher Trost. Die Nullrunde 2015/16 war der Tiefpunkt in einer Entwicklung, die sich für manche Kanadier anfühlt wie eine feindliche Übernahme. Der große Nachbar USA hat sich das Nationalspiel einverleibt, das einst in den langen kanadischen Wintern entstand. Dabei wissen die Leute in vielen US-Bundesstaaten gar nicht, was echtes Eis ist. "Glendale zum Beispiel, wo die Arizona Coyotes sitzen, liegt in der Wüste", sagt André Senecal, "das ist irgendwie Mist."

Die Lage im Eishockey sagt viel über das Verhältnis der beiden nordamerikanischen Staaten. Flächenmäßig ist Kanada größer, trotzdem wirkt das Land im Vergleich wie ein winziger Riese. Die USA haben 322 Millionen Einwohner, Kanada hat nur 35 Millionen. Die USA sind eine Weltmacht mit einem ausgeprägten Interesse an sich selbst. Kanada gilt als bodenständig und weltoffen. Selbst bei den umstrittenen Freihandelsabkommen der EU gilt der Vertrag mit Kanada, Ceta, als freundlicher verglichen mit der US-Version, TTIP.

Einerseits beneiden Kanadier die Amerikaner um ihr Selbstbewusstsein, andererseits nervt es sie. Gerade in diesen Tagen fühlen sie sich aus dem Süden unangenehm angesprochen, weil der republikanische US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump mit seinen neoliberalen Ansichten auch kanadische Errungenschaften wie das öffentliche Gesundheitssystem anprangert. Und im Eishockey sehen sich viele gefangen in einer kalten amerikanischen PR-Sport-Spirale, welche wahre Leidenschaften wegrationalisiert. Jemandem wie dem bekennenden Frankokanadier André Senecal leuchtet es zum Beispiel nicht ein, warum ab 2017 Las Vegas im Wüstenstaat Nevada als 31. Standort in die NHL kommt und nicht Québec City als Hauptstadt der Eishockey-Provinz Québec.

Kanadas Klubs verdienen schon auch ganz gerne Geld. Und gerade die Canadiens hatten wohl eher kein Interesse daran, die einträgliche NHL-Begeisterung in der Heimat mit Québec City zu teilen, das nur rund 250 Kilometer entfernt von Montréal liegt. Aber es stimmt schon: Die wahre Eishockey-Tradition liegt in Kanada. Hier entstand das Spiel im 19. Jahrhundert, als britische Soldaten das schottische Shinty aufs Eis übertrugen. Auch die NHL ist eine kanadische Erfindung von 1917, in der bis 1924 nur kanadische Teams spielten. Eishockey entfaltet in Kanada eine identitätsstiftende Kraft. Alles an dem Spiel scheint hier wichtig zu sein. "In Glendale erkennt keiner die Eishockeyspieler auf der Straße", sagt André Senecal. In Montréal schon, und die Medien schauen pausenlos auf die Canadiens. Unbeschwert aufzuspielen, ist für einen Eishockey-Profi in Kanada schwieriger als in den USA. Aber mussten 2016 deshalb gleich alle Teams vor den Playoffs scheitern?

Mit viel Eifer haben die Verantwortlichen in Edmonton, Toronto, Winnipeg, Vancouver, Calgary, Ottawa und Montréal im Sommer an der Revanche gearbeitet. Sie haben Trainer gewechselt, Spieler ausgetauscht, Wunden geleckt. Der erste Spieltag stand im Geiste des Neuanfangs: Die verjüngten Toronto Maple Leafs verloren gegen die Ottawa Senators 4:5 nach Verlängerung - aber dabei gab deren 19-jähriger US-Zugang Auston Matthews ein NHL- Debüt mit vier Treffern. Die Edmonton Oilers besiegten die Calgary Flames 7:4, die Winnipeg Jets Carolina 5:4 n.V. Die Vancouver Canucks starten erst diesen Samstag.

Und die Canadiens? Coach Michel Therrien durfte bleiben. Große Hoffnungen ruhen auf Olympiasieger Shea Weber, der nach elf Jahren in Nashville im Tausch gegen P. K. Subban gekommen ist. Außerdem dürfte die neue Konstellation im Tor Sicherheit geben. Dass Torwart Price im November verletzt ausschied, gilt als Hauptgrund für den Sturz von den Play-off-Rängen - mittlerweile ist in Montoya ein starker Stellvertreter da, wie das 4:1 in Buffalo zeigte. Es sieht gut aus. Oder? Als leidgeprüfter Canadiens-Fan freut sich André Senecal lieber nicht zu früh. "Es war erst das erste Spiel." 81 weitere folgen.

© SZ vom 15.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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