Eishockey:Ein Gesicht wie Nowitzki

Deutschland - Weißrussland

Mittelpunkt der Mannschaft: Leon Draisaitl (2. v. li.) traf zum 2:0 gegen Weißrussland.

(Foto: Maja Hitij/dpa)

Leon Draisaitl gilt als Deutschlands größtes Talent, bei der WM erfüllt er nach zähem Turnierstart die Erwartungen.

Von Johannes Schnitzler, St. Petersburg/München

Der Kanadier Jonathan Toews ist ein talentierter Eishockeyprofi. Weltmeister. Stanley-Cup-Sieger mit den Chicago Blackhawks. Olympiasieger. Das macht ihn interessant für die Werbung. In einem Video für einen Ausrüster steht Toews in einer schummrig ausgeleuchteten Eishalle, nur er und ein leeres Tor und etwa drei Dutzend Pucks. Toews stellt sich in Positur, lockert seine Muskeln, dann wählt er sorgfältig einen Puck aus und schießt ihn ins Netz. Und?

Der Schuss ins leere Tor ist erst Teil eins des Kunststücks. Weil Eishockey-Torhüter ja nicht ständig zur Bank fahren könne, wenn sie einen Schluck Wasser wollen, legen sie ihre Trinkflaschen griffbereit aufs Tor. Schießt ein Spieler den Puck unter das Tordach, dann hüpft die Flasche in die Höhe - ein bottle bounce. Toews' erster Schuss saust also unters Tordach, die Flasche hüpft, und in derselben fließenden Bewegung feuert Toews schon die nächste Scheibe ab und trifft - wie ein Revolverheld die fliegende Blechdose - die Flasche in der Luft. Peng! Man kennt das von Bewerbungsvideos, wenn begabte Fußball-Akrobaten ihre Kunststückchen ans Fernsehen schicken, um einmal auf die Torwand schießen zu dürfen. Der Unterschied: Die Fußballer spielen gewöhnlich für Klubs, die TuS Niederoberunternbach heißen oder SG Großschnattern.

Auch Taylor Hall ist einer der weltbesten Eishockeyspieler, Weltmeister 2015, Profi in der nordamerikanischen Liga NHL bei den Edmonton Oilers. Er spielt dort mit dem sehr begabten Deutschen Leon Draisaitl. Halls und Draisaitls Problem: Die Oilers sind so etwas wie die SG Großschnattern der NHL. In der regulären Saison waren sie das zweitschlechteste aller 30 Teams. Deshalb spielen Hall und Draisaitl im Mai nicht in den NHL-Playoffs um den Stanley Cup. Sondern bei der Weltmeisterschaft in Russland. Am Donnerstag spielten sie gegeneinander.

Die deutsche Auswahl spielte überraschend mutig, viel besser als vor einem Jahr beim 0:10 in Prag. Aus einem 0:2-Rückstand machte sie ein 2:2, sie schoss sogar noch ein Tor, das nicht anerkannt wurde. Sie stellte den Titelverteidiger vor eine knifflige Aufgabe. Am Ende gewann Kanada dennoch 5:2, der vierte Sieg im vierten Spiel. Hall erzielte das 1:0 und das 3:2, seine Treffer Nummer vier und fünf bei diesem Turnier. Er wurde zum "Man of the Match" gewählt. Draisaitl blieb zum vierten Mal ohne Tor. Man sah ihn kopfschüttelnd auf der Bank sitzen.

Bei der jährlichen Talentziehung in der NHL dürfen die schlechtesten Teams als erste zugreifen, der Chancengleichheit wegen. Im turbokapitalistischen US-Profisport ein geradezu romantisches Ritual. 2010 wählten die Edmonton Oilers Taylor Hall an erster Stelle, 2014 Leon Draisaitl an dritter. Noch kein Deutscher wurde bei der Draft so früh ausgewählt. Der Mittelstürmer gilt als das größte deutsche Talent seit Jahrzehnten. In dieser Saison hat der 20-Jährige in 72 Spielen 19 Tore erzielt und 32 vorbereitet, in Amerika nennen sie ihn bewundernd "German Gretzky". Die Erwartungen an Draisaitl sind riesig, auch seine eigenen. In den ersten vier WM-Spielen aber gelangen ihm nur zwei Torvorlagen - viel zu wenig für seine Ansprüche. "Ich spiele nicht gut", sagte er - wie zum Beweis seiner Klasse trug er am Freitagabend zum 5:2-Sieg gegen Weißrussland bei. Er schoss das Tor zum 2:0; die anderen Treffer gelangen Patrick Reimer, Felix Schütz, Brooks Macek und Philip Gogulla.

Neulich wurde Draisaitl gefragt, ob er sich vorstellen könne, der Dirk Nowitzki des deutschen Eishockeys zu werden, das Gesicht und der Botschafter einer kleinen Nation im Mutterland der Sportart? Ja, sagte Draisaitl, "das ist mein Ziel".

Früher war Marco Sturm dieses Gesicht. Mit 1006 Einsätzen ist er deutscher NHL-Rekordhalter. Seit dem vergangenen Sommer ist Sturm, 37, Bundestrainer. Er sagt über Draisaitl: "Er ist noch ein Kid." Sturm meint das nicht abschätzig. Er kennt Draisaitls Talent, er sagt, "er ist sicher an der Scheibe und er hat diese unglaubliche Ruhe". Er wisse, dass er besser spielen könne. Er wisse aber auch, dass er erst am Anfang seiner Entwicklung steht. Vor dieser Saison hat Draisaitl an seiner Athletik gearbeitet, er wiegt jetzt 97 Kilo bei 1,86 Meter Größe. Trotzdem musste er zu Saisonbeginn ins Farmteam. Das war nicht nur für ihn überraschend, auch Sturm reagierte "geschockt". Aber der gebürtige Kölner ließ sich nicht entmutigen und begriff die Versetzung als Motivation. So wie in St. Petersburg, als Sturm ihn aus der ersten Reihe in die zweite versetzte, um Druck von ihm zu nehmen. "Welche Rolle auch immer für mich vorgesehen ist, ich nehme sie an", sagte Draisaitl.

Sein Vorbild ist der Russe Pavel Dazjuk, zweimaliger Stanley-Cup-Gewinner, Weltmeister und auch mit 37 Jahren noch ein Leistungsträger in Detroit und in der Nationalmannschaft. An Dazjuks Eignung für die NHL zweifelten die nordamerikanischen Scouts lange. Dann holte er in seiner ersten Saison den Titel. 51 Scorerpunkte, so viele wie Draisaitl in seiner ersten kompletten NHL-Saison, gelangen Dazjuk erst im zweiten Jahr. Und Draisaitl spielt nicht in einer Meistermannschaft.

Gegen Kanada, gegen seinen Vereinskollegen Hall, wollte Leon Draisaitl es besonders gut machen. "Das wird eine große Herausforderung", hatte er zuvor gesagt. Es hätte das Spiel werden können, in dem aus einer Hoffnung eine Gewissheit wird, aus einem Talent ein Triumphator. Es hätte sein Spiel werden können, Draisaitls Spiel. Es wurde Taylor Halls Spiel.

Neulich beim Torwandschießen verlor Leon Draisaitl gegen einen blinden Fußballer

Während Halls Stern bereits strahlt, geht der von Draisaitl erst auf. Vielleicht noch bei dieser WM, vielleicht bei der Olympia-Qualifikation im September. Vielleicht auch erst im nächsten Mai, wenn die WM in Köln stattfindet, Draisaitls geliebter Heimatstadt, und seine Oilers sich wieder zeitig aus den Playoffs verabschiedet haben. Marco Sturm sagt: "Ich mache mir überhaupt keine Sorgen. Er ist die Zukunft unserer Mannschaft."

Weltmeister wie Hall wird Draisaitl vermutlich nie werden. Aber er hat bereits gelernt, Dämpfer wegzustecken. Am Wochenende vor dem WM-Start war Draisaitl im Aktuellen Sportstudio zu Gast. Er blieb an der Torwand ohne Treffer und verlor - gegen einen blinden Fußballer. Aber so ist das eben: Selbst mit der größten Begabung gelingt nicht jedes Kunststück. Das beste Beispiel dafür hat Leon Draisaitl in seiner Familie: Vater Peter, selbst Nationalspieler, trat im olympischen Viertelfinale 1992 als letzter Deutscher im Penaltyschießen an. Draisaitl überwand den gegnerischen Torwart. Aber der Puck blieb auf der Torlinie liegen. Aus.

Der Gegner hieß Kanada.

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